Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Mörder wäre Patrick. In der Situation war ich sehr gestresst und hielt ihn wirklich für den Mörder. Aber jetzt erinnere ich mich, dass ich gar nicht wissen kann, wer der Mörder war, weil ich ja nicht zum Haus zurückgekehrt bin.
Ich weiß, dass die Polizei nicht glücklich über das hier sein wird, aber es ist die Wahrheit, und ich weiß nicht, warum mein Freund Lügen über mich erzählt hat. Vermutlich hat er Angst und kann sich auch nicht gut erinnern. Aber genau so war es, und dies hier ist das, woran ich mich erinnere.
Ich faltete das Papier zusammen, gab es der Wärterin und sagte: »Das hier muss unbedingt an die Polizei weitergeleitet werden.«
Ich war wieder ein kleines Mädchen. Ich tat, was ich schon als Siebenjährige bei Ärger mit meiner Mutter getan hatte. Damals war es ein König-der-Löwen-Notizheft gewesen, das ich mir gegen die Knie gelehnt hatte, um meine Erklärung oder Entschuldigung zu verfassen, worauf ich das Blatt herausgerissen, zusammengefaltet und dann entweder meiner Mutter gegeben oder, wenn mir der Mut fehlte, irgendwo hingelegt hatte, wo ich wusste, dass sie es gleich finden würde. In späteren Jahren hatte ich dafür einen altmodischen, ramponierten kleinen Schreibtisch mit einem passenden Stuhl und einer Schublade voller Kugelschreiber. Schriftlich fällt es mir von jeher so viel leichter, mich auszudrücken, als mündlich. Wenn ich den Mund aufmache, brausen meine Gedanken durcheinander, und ich sage Dinge, die nicht immer angemessen klingen oder Sinn ergeben. Schreiben bringt meine Gedanken in Ordnung.
Mit meiner Mutter war jeder Konflikt gut ausgegangen, wenn ich ihr meinen Brief gab. Sie las ihn auf der Stelle, während ich dabeistand. Fast immer musste sie beim Lesen weinen. Dann nahm sie mich in den Arm, sagte »Danke!« und versicherte mir, dass alles in Ordnung sei.
Ich wünschte mir, jetzt würde etwas Ähnliches passieren. Die Freundlichkeit der Nonne und Lupas Umarmung stimmten mich zuversichtlich.
Für mich war es nach wie vor eine reine Frage der Zeit, bis die Polizei begriff, dass ich nur versuchte, ihr zu helfen. Dann würde man mich entlassen. Die Wärterin würde die Zelle aufschließen. Ohne mich am Arm zu dirigieren, würde sie mich zu einem Büro geleiten, wo ich meine Wanderstiefel, mein Handy, mein Leben zurückfordern konnte. Ich würde hinausmarschieren – direkt in die Arme meiner Mutter.
Ich dachte, ich hätte klargemacht, dass ich nicht zu dem stehen konnte, was ich während meiner Vernehmung gesagt hatte, dass jene Worte und meine Unterschrift nichts galten. Wir würden aufs Neue miteinander reden müssen. Diesmal würden sie zuhören müssen und mich nicht anbrüllen dürfen.
Die Hauptfrage war jetzt, wie ich mich verhalten sollte, während ich darauf wartete, dass mein memoriale an die richtigen Adressen weitergereicht und die Formulare ausgefüllt wurden. Da ich noch nie in einem Gefängnis gewesen war – und hier nie wieder sein würde –, beschloss ich zu protokollieren, was ich mitbekam, sodass ich es nicht vergessen würde.
Ich empfand eine Art Verpflichtung, zu beobachten und Informationen zu sammeln, genau wie ein Tourist, der einen Reisebericht verfasst, oder ein Kriegsberichterstatter, der Zeugnis von Verwüstungen ablegt.
Also inspizierte ich den graugrünen, mit der Zeit verblassten Anstrich der Wände und die weißen Flecken da, wo der Gips am Bröckeln war. Eine frühere Zellenbewohnerin hatte hier ihre Nachricht hinterlassen. Neben der Tür, unterhalb des Gucklochs, fand ich einen Abdruck ihres gespitzten Mundes in knallrotem Lippenstift. Daneben stand in Großbuchstaben: »Libertà, Si esce, Esco presto« – »Freiheit, Man kommt hinaus, Ich gehe bald hinaus.«
Es war, als wären diese Worte für mich hinterlassen worden. Sie bildeten eine Botschaft, die zu meiner Hoffnung beitrug. Ich fuhr fort mit meiner Bestandsaufnahme.
Das vergitterte Fenster maß einen knappen mal einen guten Meter, war zum Glück also groß genug, um Licht herein und mich hinausschauen zu lassen in die Welt, von der ich mich nur vorübergehend getrennt glaubte. Ich sah eine Reihe kegelförmiger Zypressen nebeneinander auf dem Gipfel eines Hügels. Sie erinnerten mich an die Bäume, die Deanna und ich zwei Monate früher auf dem langen, gewundenen, dermaßen falsch berechneten Fußmarsch vom Bahnhof gesehen hatten. Damals, als ich solches Selbstvertrauen gehabt hatte und so gespannt darauf gewesen war zu sehen, wie sich mein italienisches
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