Zeit, gehört zu werden (German Edition)
wusste, dass ich seine Fragen einfach abwarten konnte. Irgendwann würde er mich schon wieder in meine Zelle zurückschicken. Ich wies ihn nicht zurecht, weil ich nicht der konfrontative Typ bin. Wenn mich etwas stört, versuche ich es zu ignorieren und darüber hinwegzukommen oder es auf Umwegen anzusprechen. Deswegen habe ich als Kind all diese Entschuldigungsbriefe an meine Mutter geschrieben, statt mich direkt an sie zu wenden.
Eines Abends fragte mich Argirò, ob ich Sexfantasien hätte. Da brachte ich dann endlich ein bisschen Mut auf. Ich holte tief Luft. »Zum letzten Mal«, sagte ich mit fast schriller Stimme. »Nein! Warum stellen Sie mir dauernd Fragen über Sex?«
Argirò starrte mich an und zuckte die Achseln, als wäre das gar keine große Sache – oder vielmehr meine Schuld, dass ich nicht gleich von Anfang an die Grenze gezogen hatte.
17
15.–16. November 2007
V ice commandante Argirò überbrachte mir die Nachricht. Statt seiner üblichen Begrüßung – ein lüsternes Lächeln und ein Kuss auf beide Wangen – blieb er hinter seinem Schreibtisch sitzen. Seine Zigarette zog eine Rauchfahne. Seine Miene war düster.
Irgendetwas stimmte nicht.
Argirò schob die Kopie eines italienischen Zeitungsartikels zu mir herüber. Ich brauchte einen Moment, um die Schlagzeile zu übersetzen. »Mordwaffe gefunden – mit DNA des Opfers und der Verhafteten Knox«. Darunter das unscharfe Foto eines Küchenmessers und die Worte: »In Sollecitos Wohnung wurde ein Küchenmesser mit der DNA von Amanda Knox am Griff und der DNA des Opfers an der Klinge gefunden. Nach Ansicht der Ermittler handelt es sich um die Mordwaffe.«
Das ist doch absurd. Da muss ich etwas falsch gelesen haben.
Ich zwang mich, von vorne zu beginnen, die Geschichte langsam noch einmal durchzugehen und dabei jedes Wort zu kontrollieren. Als ich am Ende ankam, wusste ich, dass dies kein sprachliches Problem war.
Argirò funkelte mich fast sadistisch an.
»Haben Sie dazu irgendetwas zu sagen?«, fragte er.
»Aber das ist unmöglich!«, stieß ich aus. »Ich habe Meredith doch nicht umgebracht! Ich bin unschuldig! Ist mir doch egal, was in dem Artikel steht! Das stimmt alles nicht!«
»Es ist bewiesen«, erwiderte Argirò grinsend. »IHRE Fingerabdrücke. Merediths DNA.«
»Ich weiß gar nichts von einem Messer«, sagte ich. »Sie können doch nicht meine Schuld beweisen, wenn ich unschuldig bin.«
Die kurze Unterhaltung endete ergebnislos. Ich warf ihm einen bösen Blick zu. »Gehen Sie jetzt mal lieber zurück in Ihre Zelle und denken über das nach, was Sie sagen wollen«, fauchte Argirò zurück.
Ich fand keine Worte für meine Wut – oder Angst. Beide Gefühle rumorten in mir, als die Wärterin mich abführte. Vielleicht hätte ich nicht geschockt auf die Messergeschichte reagieren dürfen. Ich war seit neun Tagen im Knast und bereits als Mörderin verschrien.
Meine Anwälte waren nach Capanne gekommen, um die sich tagtäglich drehende Story meiner vermeintlichen Beteiligung unter Kontrolle zu bringen und mich zu fragen, ob die Nachrichten irgendwelche Wahrheiten beinhalteten.
Die Ermittler behaupteten, ich selbst hätte Meredith festgehalten, während entweder Patrick oder Raffaele ihr die Kehle durchschnitten hätten, und hätte während dieser Attacke so fest auf Merediths Gesicht gedrückt, dass ich einen Fingerabdruck an ihrem Kinn hinterlassen hatte. Die Polizei ließ verlauten, da die Blutergüsse klein gewesen seien, könnten sie nur von Frauenfingern herrühren, obwohl das ein Trugschluiss ist. »Es sind ja keine Fingerabdrücke«, erklärte Carlo. »Man kann die Handgröße nicht durch die Größe der Blutergüsse ermitteln. Alles hängt von den Umständen und dem jeweiligen Druck ab.«
Dies war nur ein weiteres Beispiel dafür, wie die Staatsanwaltschaft Beweise verbog, um mich in die Mordszene einzubetten, und all das unberücksichtigt ließ, was nicht in ihre Erklärungen passte. Dasselbe hatten sie wenige Tage früher getan, indem sie die Theorie in Umlauf brachten, nur eine Frau wäre imstande gewesen, Merediths verwüsteten Leib mit einer Decke zu verhüllen. Ein paar Jahre später las ich, dass genau das etwas ist, was Menschen, die zum ersten Mal morden, häufig tun. Die Kriminalbeamten erwähnten nicht, wie selten es vorkommt, dass eine Frau ein Gewaltverbrechen begeht, besonders an einer anderen Frau. Genauso wenig nahmen sie zur Kenntnis, dass ich nicht ins Profil gewalttätiger Frauen passte. Ich hatte
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