Zeit, gehört zu werden (German Edition)
urteilen.«
»So schlecht scheinen sie nicht zu sein«, sagte ich.
Cera lachte spöttisch. »Du weißt nicht, wie sie über dich reden, wenn du draußen bist. ›Was glaubt Khh-nok-ks eigentlich, wer sie ist? Sie rettet Würmer vor dem Regen, aber bringt Menschen um.‹ Sogar Lupa sagt, du seist schuldig.«
Ich wusste, die Staatsanwaltschaft glaubte mir nicht, aber ich hatte angenommen, dass die Menschen, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte, mich so sahen, wie ich bin, und nicht das Schlechteste annehmen würden. Sobald Cera es aussprach, schien es offensichtlich – natürlich würden die Wärterinnen davon ausgehen, dass ich eine Mörderin war. Alle dachten das.
»Die Wärterinnen zu beschwichtigen ist die einzige Möglichkeit, hier zurechtzukommen«, sagte Cera. »Man muss den anderen Gefangenen Vertrauen einflößen. Aber kümmere dich um deinen eigenen Kram. Und traue niemandem.«
Ich wechselte das Thema. »Macht es dir etwas aus, wenn ich dich nach deinem Alter frage? Und wie lange du schon im Gefängnis bist?«
Sie schaute mich mit der übertriebenen Geduld einer Erwachsenen an, die mit einem Kind spricht. Ich wusste noch nicht, dass persönliche Fragen für Häftlinge tabu sind.
»Ich bin dreiundzwanzig«, antwortete sie, »und seit fast sechs Jahren im Gefängnis – von fünfundzwanzig insgesamt. Sie behaupten, ich hätte meinen Freund umgebracht.«
O Gott . Das zu hören tat mir im Herzen weh.
»Ich weiß, wie es dir geht«, fuhr sie fort. »Momentan stehst du ja im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aber keine Bange, sie werden dich restlos vergessen, sobald das nächste sensationelle Verbrechen daherkommt.«
Sosehr ich auch aus dem Rampenlicht verschwinden wollte, das Wort »vergessen« jagte mir einen Schrecken ein. Schon bei »fünfundzwanzig Jahren« verkrampfte sich mein Magen. Am liebsten hätte ich um sie geweint – und um mich. »Sind die Medien hart mit dir ins Gericht gegangen?«, fragte ich.
Sie warf mir erneut einen herablassenden Blick zu. »Journalisten beißen sich an etwas fest und machen dich zum Inbegriff des Bösen«, sagte sie. »Dann heißt es, du hast ein ›Engelsgesicht, aber die Seele eines Teufels‹. Hast du das mit Alberto Stasi gehört?« Er war angeklagt, im August 2007 seine Freundin umgebracht zu haben. »Weißt du noch, wie die Presse berichtet hat, er habe ›Eisaugen‹, weil sie blau sind? Bei mir war es auch Eis. Sie haben mich zu einer Psychopathin stilisiert, weil ich gern auf Eis herumbeiße.«
Wie konnte ich nur so naiv sein?
»Vielleicht sollten wir nicht darüber sprechen«, sagte sie. »Spar dir die Demütigung.«
Cera hatte recht. Wenn sie sprach, wirkte sie wütend und verbittert. Das hatte ich nicht beabsichtigt.
Mit zwanzig hatte ich noch eine kindliche Vorstellung von Menschen. Ich suchte nach dem Positiven in jedem. Ich glaubte, Menschen seien von Natur aus mitfühlend, sie schämten sich und hätten Schuldgefühle, wenn sie einen anderen schlecht behandelten. Dieser Glaube wurde mir allmählich genommen, doch ich hielt an der Überzeugung fest, dass Menschen von Grund auf gut sind. Und dass gute Menschen mir glauben und mich freilassen würden.
Ein Teil meines Reifeprozesses im Gefängnis bestand in der Erkenntnis, dass Menschen kompliziert sind und manche etwas Falsches tun, um zu erreichen, was sie für richtig halten. Seit meiner zweiten Vernehmung durch Mignini wusste ich, dass man darauf aus war, mein Alibi zu erschüttern. In den darauffolgenden Wochen und Monaten sollte ich erfahren, wie weit sie gehen würden, um meine Schuld zu beweisen.
Anfang Januar trat Raffaeles Vater in einer populären italienischen Nachrichtensendung auf, um die Zuschauer davon zu überzeugen, dass sein Sohn nichts mit dem Mord an Meredith zu tun hatte. »Die blutigen Schuhabdrücke in der Villa stammen von Rudy Guede«, sagte er. Das Muster von elf konzentrischen Kreisen in der Sohle von Guedes Nike Outbreak 2 passte zu den Abdrücken auf dem Boden. Dr. Sollecito brachte ein Duplikat der Nike-Schuhe mit, damit die Fernsehzuschauer es sahen. Ein entsprechender Schuhkarton sei in Guedes Wohnung gefunden worden, fügte er hinzu.
Die Abdrücke konnten nicht von Raffaeles neueren Nike Air Force 1 stammen, sagte er. »Die haben nur sieben konzentrische Kreise.« Am Ende der Sendung hatte er die Möglichkeit ausgeräumt, dass Raffaele am Tatort war, und einen weiteren Schlag gegen Guede verübt. Raffaeles Familie muss euphorisch gewesen sein.
Doch ihr
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