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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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hatten die drei Reisenden den Schatten der Sattelberge erreicht.

 
Kapitel 10
     
    Das Terrarium
     
    D er Aufstieg an der Nordseite des Orion-Berges war nicht schwierig. Er war einer der kleineren Berge, und Jasmine kannte alle Pässe.
    Sie waren stumm beim Steigen. Jeder hing verirrten Gedanken nach. In der kühlen Stille des Nachmittags schien der Berg selbst in sich versunken zu sein. Manchmal frischte der Wind auf und heulte wie eine schmerzhafte Erinnerung durch die Schluchten, dann erlosch er wie letzter Atem.
    Das Gestein war brüchig, der Bewuchs karg. Als die Luft dünner wurde, zeigten sich die Hänge steiler, rutschiger, weniger begangen. Trotz der glatten Oberfläche erreichten die Kletterer aber bald den Gipfel. Bloße dreihundert Meter über dem Meer blickten sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren, auf das Helldunkel des Wegegeflechts zurück, das sie bis zu dieser Stelle geführt hatte, dann voraus nach Süden, zwölfhundert Meter in den Urwald unter der Meereshöhe, der ihre Zukunft war. Dundees Terrarium.
    Das Terrarium bestand aus fast 26000 Quadratkilometern Regenwald, auf allen Seiten von den Sattelbergen umgeben, fast achthundert Meter unter dem Meer, brodelnd auf trägen Lavabetten, gesprenkelt mit heißen Quellen: ein dampfendes, abgeschiedenes Treibhaus. Jeden Tag löste sich der Nebel von den Gesteinsschichten, stieg durch das dichte Mosaik von Licht und Laub, erreichte die kühlere Luft auf Meereshöhe – noch immer mehr als dreihundert Meter unter den abschirmenden Gipfeln –, kondensierte und regnete auf den Dschungel herab und kühlte ein wenig. Eine Stunde später stieg der Dampf dann schon wieder auf, und das Ganze wiederholte sich. Den ganzen Tag, die ganze Nacht, eine Stunde Regen, eine Stunde Dampf.
    Von ihrem Platz aus war vom Terrarium selbst nicht viel zu sehen. Aber sie fühlten es, sie rochen es, eine riesige schwelende Gruppe, die darauf wartete, dass das nächste Opfer hineinfiel.
    Nur wenige, die Dundees Terrarium betraten, kamen jemals wieder heraus. Jasmine wusste das. Sie hatte Jahre ihres Lebens damit verbracht, dort unten tausend verschlungene Pfade kennen zu lernen; sie kannte das Gebiet so gut wie nur irgendein Lebender, gewiss so gut wie Bal selbst. Sie hatte keinen Zweifel an ihrer Fähigkeit, den Vampir und seine Geiseln im Terrarium aufspüren zu können, denn Bal war nicht ihr tückischster Feind – das war der Dschungel selbst, jetzt wie schon immer. Tausend wirre Wege hatte sie dort kennen gelernt und war doch fortgegangen, weil sie ganz genau wusste, dass das nur ein Anfang war.
    »Ich bin nie Pantheistin gewesen«, sagte sie, als sie mit dem Abstieg begannen, »aber dieser Dschungel ist lebendig. Und intelligenzbegabt.«
    Der Abstieg ging vergleichsweise leicht vonstatten. Nicht zu steil für Beauty, und genug Vegetation, woran man sich festhalten konnte. Bei hundertachtzig bis dreihundert Metern unter den Gipfeln tauchten sie völlig in die Wolkendecke ein. Hier ging es langsam voran. Man sah nicht weiter als höchstens einen halben Meter. Beauty hielt sich an Jasmine fest, Josh an Beauty, damit keiner verloren ging. Einen Augenblick lang fürchtete Joshua, sie würden bis in alle Ewigkeit im dichten Nebel herumtappen.
    Endlich tauchte das Trio wie Gespenster aus einem Traum unter der Wolkendecke heraus und sahen ihn zum ersten Mal ganz, den Regenwald. Sie blieben kurz stehen, um ihn zu betrachten, sich ihm zuzuwenden, dann stiegen sie ohne weitere Umstände in den Bauch der Bestie hinab.
    Sie erreichten ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang die ersten Ausläufer des Dickichts. Temperatur und Luftfeuchtigkeit nahmen immer mehr zu. Es regnete nicht, also dampfte es. Von den Farnen stiegen in trägen Spiralen Dünste auf, Wasser tropfte von den Wedeln auf das Gestein, wo es sofort wieder verdampfte. Die Luft war zum Greifen.
    Jasmine ging voran. Sie schien genau zu wissen, wohin sie ging, obwohl man keinen Pfad erkennen konnte. Knietief in dünnem Farn, dann brusttief in Vogelknöterich, führte sie die beiden anderen bedachtsam um brodelnde heiße Quellen herum, über eine kurze Tafel aus glühheißem Schiefer und schließlich unter die ersten schützenden schlaffen Bäume, die durchflochten waren von Kriechranken.
    Joshua hatte ein dumpfes Gefühl der Vorahnung. Diese fremdartige Vegetation erinnerte an unheimliche Dinge. Er wünschte sich nur, wieder über freies Land zu laufen. Im stillen dankte er dem Wort dafür, dass es ihn mit Jasmine

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