Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
habe. Acht Tage habe ich nichts verdient.«
»Ja«, sagte Paul, »es war wirklich eine Abstimmung, die nichts eingebracht hat. Jetzt sind wir alle genauso schlau wie vorher. Die Städte haben dafür gestimmt, dass Oberschlesien bei Deutschland bleibt, und auf dem Lande wollten die Menschen, dass sie zu Polen kommen.«
»Meine Mutter habe ich jedenfalls noch einmal gesehen«, sagte Marek, »und auch die Familie meiner Frau.«
»Und was hältst du von dem polnischen Aufstand?«, fragte Paul.
»Dieser Korfanty! Zum dritten Mal wollte er mit Waffen und Gewalt das Gebiet zu Polen zwingen. Sind viele dabei umgekommen, Paul«, antwortete Marek. »Aber du musst meine Landsleute verstehen. Für so viele Jahrzehnte war Polen von der Landkarte gestrichen. Die Russen, die Österreicher und die Preußen haben sich etwas weggerissen, jeder einen Teil. Aber kein Pole hat je vergessen, dass er ein Pole ist.«
»Na ja, aber der Aufstand war ein Schlag ins Wasser«, sagte Paul.
»Stimmt«, gab Marek zu. »Ich glaube, mit Blut wirst du das Wort ›Frieden‹ niemals richtig schreiben können.«
»Wenn’s nicht die Abstimmung ist, Marek, und nicht der Aufstand, was ist’s, was dich drückt? Irgendwas ist dir über die Leber gelaufen.«
»Ich mache mir Sorgen, Paul. Danuta erwartet ihr fünftes Kind.«
»Ist doch schön, Marek. Vielleicht wird’s nach den vier Mädchen endlich ein Junge.«
»Sie ist schon zehn Tage über die Zeit«, sagte Marek. »Bei der letzten Geburt ist es ihr verdammt dreckig gegangen. Wir haben damals den Arzt holen müssen und der hat gesagt: ›Marek, das muss das letzte Kind sein, wenn Sie ihre Frau lieb haben.‹«
»Der hat gut reden«, sagte Paul.
Sie schwiegen eine Weile, dann brach es aus Marek heraus. »Ein Jahr lang haben wir’s ausgehalten, Paul, weil wir uns lieb haben. Und dann war sie doch wieder schwanger. Auch, weil wir uns lieb haben. Und nun ist sie schon zehn Tage über die Zeit.«
»Wird schon gut gehen, Marek«, sprach Paul dem Kollegen Mut zu.
Aber es ging nicht gut. Drei Tage lang blieb Marek von der Arbeit weg und der Meister maulte schon herum, er müsse sich wohl nach einem anderen Kolonnenführer umsehen.
Als Marek wiederkam, war sein Gesicht hagerer geworden, grau die Haut und tiefer die scharfen Falten um Mund und Augen.
»Es ist ein Junge«, sagte er, »zehn Pfund schwer und er hat eine Stimme wie eine Trompete von Jericho.«
»Du hast doch immer einen Jungen gewollt, Marek.«
»Er hat Danuta in den Tod geschrien«, sagte Marek leise. Und dann sprach er die ganzen acht Stunden kein Wort mehr.
Als endlich Feierabend war, hatte die Kolonne zum ersten Mal, seit Paul dabei war, mehr als hundert Nieten im Schnitt geschafft, aber es war ein trauriger Rekord und keiner außer Willi Rath jubelte darüber.
»Wann ist die Beerdigung?«, fragte Paul, als sie sich wuschen.
Marek blickte ihn überrascht an und sagte: »Donnerstag. Erst die Messe und dann die Beerdigung. Eine Polenbeerdigung. Wirst du trotzdem kommen?«
»Ich werde kommen«, versprach Paul.
Willi Rath zog ein saures Gesicht, aber er machte keine Einwände, als Paul es ihm sagte, dass er am Donnerstag früher freihaben müsse.
Die Markuskirche war beim Totenamt voller Menschen. Viele Frauen hatten ihre polnischen blau-roten Trachten angezogen, die dreifache Korallenkette um den Hals, und die Männer schwitzten in ihren schwarzen Anzügen.
Obwohl Polen fast tausend Kilometer entfernt lag, wurden polnische Lieder gesungen und der Priester predigte in polnischer Sprache.
Paul konnte das meiste verstehen. Oft waren zur Erntezeit oder wenn sein Vater Lukas Bienmann das Holz für die Häuser fällte, Arbeiter aus dem Polnischen nach Liebenberg gekommen. Sie brauchten nicht weit zu laufen. Liebenberg war das erste Dorf gleich hinter der Grenze.
Der Trauerzug musste von der Kirche bis zum Friedhof länger als eine halbe Stunde ziehen. Leise klapperten die Rosenkränze und eintönig war das Gemurmel der Ave Maria. Der Pfarrer sprach die Totengebete. Er besprengte das Grab mit geweihtem Wasser und schaufelte schließlich Erde zum Zeichen der Vergänglichkeit des Menschen in das Grab.
Viele traten an die offene Grube. Die Polen griffen die Erde mit der bloßen Hand und warfen sie auf den Sarg. Die Deutschen benutzten die Schaufel. Marek, der sonst sehr sparsam war, hatte viele aus der Trauergemeinde in das Gasthaus »Zur Morgensonne« eingeladen, das nicht weit vom Friedhof entfernt lag. Bei einem
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