Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
es gleich gewusst, dass es Stunk geben würde«, sagte er. »Der Paul bekam einen puterroten Kopf. Ich kenne das. Und dann hat er dem alten Wischerhoff und dem Willi Rath die Wahrheit mitten ins Gesicht gesagt.«
    »Diesen Luxus hat er sich etwas kosten lassen«, sagte Martin Reitzak ärgerlich. »Vierzehn Tage vor der Hochzeit und dann so ein Theater.«
    Franziska saß blass auf der Bank. Sie hatte ihre Brille auf die Tischplatte gelegt. Eine ganze Weile sprach keiner ein Wort. Schließlich brach Karl die Stille. Franziska hätte ihm am liebsten zugeschrien: Schweig still und rede nicht herum, aber sie spürte, dass sie die Tränen nicht zurückhalten konnte, wenn sie auch nur einen Satz sprach.
    »Mit Pauls Wut, das kenne ich«, sagte Karl. »Er ist ein ganz anderer, wenn ihn der Jähzorn packt, und meistens macht er dann die verrücktesten Sachen.«
    »Was für Sachen zum Beispiel?«, fragte Leo.
    »Mir hat seine Wut mal das Leben gerettet«, sagte Karl. »Mich hatte es bei einem Angriff an der Somme ganz heftig erwischt.« Er knöpfte sein Hemd auf und schob es so über die Schulter, dass eine hühnereigroße Narbengrube dicht unter dem Schulterblatt sichtbar wurde.
    »Fast ein Blattschuss«, sagte er. »Ich blieb in einem Stacheldrahtverhau hängen und war so schlapp, dass ich mich nicht vor und nicht zurück bewegen konnte. Die Kameraden haben mir später erzählt, ich hätte die ganze Nacht geschrien. Sie hätten verschiedene Male versucht, mich die knapp dreißig Meter, die ich von unserem Graben entfernt zwischen den Linien lag, zurückzuholen, aber es war eine mondhelle Nacht, und jedes Mal, wenn sie auf einem Gewehrlauf einen Stahlhelm nur wenige Zentimeter über die Grabenbrüstung gehoben hätten, dann wäre von drüben eine wilde Schießerei losgegangen. Als es endlich Tag geworden sei, da habe sich meine Stimme rau wie das Gekrächz eines Kolkraben angehört. Der Paul habe sich die Ohren zugehalten, aber mit einem Male sei er ganz rot angelaufen, habe sein weißes Taschentuch herausgezogen, und ehe ihn jemand zurückreißen konnte, sei er die Leiter hochgestürmt. Er sei ganz aufrecht ins Niemandsland gegangen. Mit dem Taschentuch habe er gewinkt und geschrien: ›Nicht schießen, Brüder!‹ Und kein einziger Schuss ist gefallen, bis er mich aus dem Stacheldraht herausgezerrt und in unseren Graben zurückgeschleppt hatte.«
    »Kein einziger Schuss ist gefallen«, wiederholte Bruno, der zusammengefahren war, als er das Wort »Nicht schießen, Brüder!« gehört hatte.
    »Ist keine Zauberformel«, sagte Karl. »In Berlin haben sich ein paar hinter einem Transparent versteckt, auf dem stand: ›Nicht schießen, Brüder!‹ Als die Freischärler im Dezember 18 arglos darauf zugingen, sind sie von einem Kugelregen überschüttet worden. Sie sollen damals elf Männer und einen Offizier verloren haben.«
    Bruno stand mit einem Ruck auf und murmelte: »Keine Zauberformel. Recht hast du, Karl.« Und er ging in seine Kammer und warf sich aufs Bett.
    Franziska und Karl versuchten, Paul zuzureden, den vereinbarten Hochzeitstermin nicht zu verschieben. »Schließlich müsst ihr keine Not leiden«, sagte Resi. »In Franziskas Schneiderei kommt immer so viel Geld, dass ihr davon leben könnt.«
    Paul schüttelte den Kopf.
    »Wir haben in Beilens Haus die zwei Zimmer vom 1. Dezember an gemietet«, sagte Franziska, aber Paul war nicht umzustimmen.
    »In Gelsenkirchen hast du es doch als Hausfriseur versucht«, erinnerte Karl ihn. »Wäre das denn nichts für den Übergang?«
    »Der alte Beilen ist Hausfriseur, der Parvese ebenfalls, die meisten schneiden sich gegenseitig die Haare und so etwas empfiehlst du mir«, höhnte Paul. Und dann sagte er: »Lasst mich in Frieden. Lasst mich endlich in Frieden.«
    Als Franziska zu weinen begann, schrie er: »Ihr habt alle gut reden. Ihr habt ja Arbeit und tragt jeden Freitag eure Lohntüte nach Hause. Ich verdiene keinen Pfennig. Ein Mann muss eine Familie ernähren können. Soll ich mich von dir aushalten lassen, Franziska? Ich müsste ja mein eigenes Bild im Spiegel anspucken, wenn ich das täte.«
    Da wurde auch Franziska heftig. »Ich liebe dich nicht, weil du eine Stelle hast oder keine Stelle hast. Was bist du nur für ein Kerl? Erst verschweigst du mir vierzehn Tage lang, dass du in der Klemme sitzt, und dann spielst du hier den stolzen Gockel.«
    Sie sprangen beide auf und liefen aus der Stube. Frau Reitzak schüttelte besorgt den Kopf. »Wird sich schon wieder

Weitere Kostenlose Bücher