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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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entfaltete sich. Ein voller runder Blütenschirm leuchtete schließlich in brennendem Rot.
    Frau Podolski hatte die Flurnachbarin in ihre Küche gerufen, um ihr die Blume zu zeigen. »Den grünen Daumen haben Sie schon immer gehabt, Frau Podolski«, sagte die Nachbarin und: »Nee, dass es so was noch gibt!« Sie hatte weitererzählt, was es bei der Podolski zu sehen gab, und zwischen Schlangestehen nach Brot, Holzsammeln für den Herd und Waschen ohne Seife war eine Nachbarin nach der anderen für einen Augenblick zu Frau Podolski in die Küche geschlüpft und hatte die Geranie angeschaut. »Det Leben«, sagte Oma Merkes, die hoch unter dem Dach wohnte, »det Leben, det Leben, det kriejt ja nu mal keener unter.«
    Auch Frau Glickstein war gekommen. Die schmale, ausgemergelte Jüdin bewohnte im Kellergeschoss nur ein einziges, halbdunkles Loch. Ihr Mann war als Unteroffizier 1915 gefallen, kurz nachdem er für einen tollkühnen Vorstoß bis weit hinter die feindlichen Linien das Eiserne Kreuz Erster Klasse verliehen bekommen hatte. »Ich weiß«, sagte sie leise, »blühende Pflanzen soll man nicht berühren. Aber, Frau Podolski, ich bitte Sie trotzdem darum. Meine kleine Esther ist ja seit Monaten krank und sehr schwach. Sie darf das Bett nicht verlassen. Der Arzt sagt: Tuberkulose. Ich soll ihr Butter geben.« Sie lachte bitter. »Butter!«, stieß sie hervor. »Ihr Kostgänger, der Eduard, der hat mir vor Wochen einen fetten Dackel mitgebracht. Drüben in Dahlem hat er ihn eingefangen und dann geschlachtet. In den vornehmen Vierteln kann man noch Hunde finden, denen es besser geht als uns. Das war das letzte Fett, das Esther gesehen.«
    Frau Podolski erriet, um was Frau Glickstein sie bitten wollte, und sagte: »Der Junge wird Ihnen meine Geranie hinuntertragen. Er braucht sich nicht zu beeilen, sie zurückzubringen.«
    Bruno stellte auf Frau Glicksteins Geheiß den Blumenstern auf einen hölzernen Schemel nicht weit von Esthers Bett. In Esthers magerem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Ihre großen schwarzen Augen glänzten. »Wie wunderschön«, sagte sie und richtete sich in ihrem Metallbett ein wenig auf.
    »Es ist eine Geranie«, sagte Bruno. Sie schien ihn nicht zu hören. Ein trockener Husten schüttelte sie. Mit einem Male warf sie sich zurück und drehte ihr Gesicht zur Wand.
    »Esther, Kind, was ist? Willst du dich nicht bei dem Jungen bedanken?«, fragte Frau Glickstein ängstlich.
    Esther gab keine Antwort und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
    »Du gehst jetzt besser«, sagte die Frau zu Bruno. »Es war lieb von dir, dass du die Blume herabgetragen hast. Vor Jahren hätte ich dir Schokolade geben können oder ein Geldstück, aber …«
    »Lassen Sie nur, Frau Glickstein. Es ist schon gut.«
    Bruno trug die Geranie wieder hinauf. Frau Podolski summte vor sich hin. Sie putzte ihre Herdplatte mit alten Tüchern. Mit ihrem ziemlich umfangreichen Hinterteil wedelte sie dabei kräftig hin und her. »Stell dir vor«, rief sie, »der Paul hat für ein Abschiedsessen gesorgt! Heute Abend gibt es Pellkartoffeln mit Hering. Der Bursche hat tatsächlich sieben Heringe aufgetrieben und zwei Kilo Kartoffeln dazu. Zur Feier des Tages werden wir alles auffuttern. Heute ist heut und was morgen kommt, das weiß nur der liebe Gott.«
    »Ich hab noch eine große Bitte, Frau Podolski«, sagte Bruno. Er wurde ein wenig verlegen.
    »Hoffst wohl, dass du von den sieben Heringen zwei für dich bekommst, Bursche, wie?«
    »Nein, nein. Sie wissen doch, der Wilhelm, mein Bruder, der liegt wer weiß wo begraben.«
    Frau Podolski nahm den Scheuerlappen von der warmen Herdplatte und sagte: »Na und? Hast du gehört, wo er geblieben ist?«
    »Nein, Frau Podolski.«
    »Brauchst dir darum keine Sorgen zu machen, Junge. Wenn die Zeiten wieder ruhiger sind, gehe ich selbst mal aufs Amt. Ist ja damals aufgeschrieben worden, der Name von deinem Bruder. Und wenn ich etwas rausbekomme, dann schreibt dir die alte Podolski einen Brief nach Gelsenkirchen.« Sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt.
    Bruno druckste herum.
    »Oder was ist? Willst du mir etwa sagen, dass der Abschied dir schwerfällt?«
    »Es ist etwas anderes, Frau Podolski. Ich wollte meinem Bruder noch etwas Gutes tun. Ich wollte … Na, eine Blume, dachte ich, sollte ich auf das Pflaster legen. Mitten auf den Platz. Dorthin, wo er umgebracht worden ist.«
    »Bruno, woher willst du eine Blume bekommen? In schlechten Zeiten verschwinden in den Städten zuallererst

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