Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
alte Reitzak. »Das lassen sich die Franzosen niemals gefallen. Fünfzig Kilometer rechtsrheinisch ohne jedes deutsche Militär, so ist es ausgemacht. Die Franzosen warten doch nur darauf, dass die Reichswehr kommt. Dann können sie einmarschieren.«
»Wenn die Kommunisten weiter Unruhe stiften, dann kommen die Franzmänner sowieso«, sagte Hermann.
Mathes wehrte sich. »Was heißt hier Unruhe? Ich meine, wir sollten die freie Zone nützen und endlich die Räterepublik hier im Ruhrgebiet errichten.«
»Könnt ihr ja mal versuchen«, sagte Paul. »Die Bürgerwehren und die grüne Polizei werden euch die Flausen austreiben.«
Hermann lachte verächtlich. »Bürgerwehr, dass ich nicht lache! Die kneifen den Schwanz ein, wenn der erste Schuss fällt. Könnt ihr euch etwa vorstellen, dass der Georg Freitag oder der Max Bensing wirklich den Kopf hinhalten, wenn es knallt? Einen starken Staat müssen wir aufbauen. Nicht immer nur reden sollen die in Berlin. Handeln sollen die endlich.«
Frau Reitzak, die etwas abseits am Fenster saß und im Dämmerlicht Socken stopfte, mischte sich ein und sagte bitter: »So ist das mit euch. Der eine kommt von rechts, der andere von links. Nichts habt ihr gemeinsam. Nur das eine: Ihr wollt diesen Staat nicht, wollt mit Gewalt den anderen eure Ideen aufzwingen. Wehe uns, wenn ihr euch mal zusammentut!«
»Wir zusammen mit der Reaktion?«, sagte Mathes. »Nie!«
»Nie mit den Roten gemeinsam!«, bestätigte Hermann.
Bruno stürmte aus der Kammer herein. »Ich kann’s jetzt«, sagte er. »Soll ich’s mal aufsagen?«
»Ruhe!«, befahl der alte Reitzak. »Ich höre gern Gedichte.«
Bruno stellte sich zwischen Kammertür und Fenster genau unter den Spiegel und begann mit lauter Stimme: »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern«, er stockte. »In keiner …« Er stampfte mit dem Fuß auf. »In keiner …« Aber er brachte es nicht heraus.
»In keiner Not uns trennen und Gefahr!«, rief Hermann und war aufgesprungen. Er fuhr mit lauter Stimme fort und reckte dabei den rechten Arm hoch: »Wir wollen frei sein, wie die Väter waren …«
»Muss aber schon lange her sein«, warf Karl dazwischen, aber Hermann war nicht zu bremsen.
»Lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben.«
»Vielleicht können wir lebendig bleiben und doch frei sein. Vielleicht gibt es noch etwas zwischen Tod und Knechtschaft«, sagte Frau Reitzak voller Spott.
»Du solltest in die Politik gehen, Mutter«, sagte Franziska. »Du legst die Wirrköpfe hier alle aufs Kreuz.«
»Ach was«, wehrte Frau Reitzak ab. »Dazu bin ich um diese Uhrzeit doch ein bisschen zu müde.«
Die Männer verstanden sie und sagten bald darauf Gute Nacht.
Als Martin Reitzak neben seiner Frau im Bett lag, tastete er nach ihr und flüsterte: »Ich weiß nicht, wie du das fertigbringst, Mathilde. Aber für das, was in meinem Schädel summt und brummt, dafür findest du Worte, die ich verstehe, die jeder versteht.« Und dann sagte Martin etwas, das er nur ein einziges Mal zuvor zu Mathilde gesagt hatte: »Ich liebe dich, Frau.«
18
Seinen Muskelkater hatte Paul längst überwunden. Zweimal war die Nietkolonne dicht an einen Stundendurchschnitt von siebzig Nieten herangekommen. Marek war nicht zufrieden und murrte: »Heute ist der 13. März und du bist jetzt vierzehn Tage bei uns, Bienmann. Ich will nicht sagen, dass du dich nicht anstrengst, aber wir haben heute wieder nur fünfundsechzig in der Stunde erreicht. Am Montag müssen die siebzig fallen, sonst …« Er sprach nicht weiter und warf das Werkzeug ärgerlich in seine Kiste. »Fünfundsechzig!«, schimpfte er vor sich hin. »Perunje! Fünfundsechzig, und das in Mareks Kolonne.«
»Ich brauche schon pro Niete zwei Hammerschläge weniger als zu Beginn«, entgegnete Paul. »Ich werde es schon noch genauso schnell schaffen wie jeder andere.«
»Du bist nicht allein daran schuld«, gab Marek zu. »Der Junge hat fünfzehn Nieten zu heiß werden lassen. Er fliegt, wenn das nächste Woche nicht anders wird. Da kann dein Karl noch oft sagen, dass der Junge es zu Hause sehr schwer hat.«
»Ihm geht es wirklich dreckig«, sagte Paul. »Sein Vater hat das rechte Bein verloren und kann keine Arbeit finden. Er hat fünf Geschwister und seine Mutter weiß nicht, wie sie die Mäuler stopfen soll. Der Junge gibt sein ganzes Geld zu Hause ab.«
»Hör auf!«, schimpfte Marek. »Habe ich keine Kinder? Reicht bei uns das Geld? Wenn du dich satt fressen willst, was bleibt dir übrig, als
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