Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Alwin, band einem Pferd einen Strick ans Halfter und schwang sich auf ein anderes. Manfred schaffte einen solchen hohen Sprung nicht und kletterte am Gattertor hoch, damit er den Pferderücken erreichte. Bruno tat es ihm nach. Alwin ritt voran und Manfred und Bruno folgten.
Bruno hatte seit nahezu zwei Jahren nicht mehr auf einem Pferderücken gesessen. Aber es war wohl so, wie der alte Lukas Bienmann immer gesagt hatte: Wer schwimmen und reiten kann, der verlernt beides sein Leben lang nicht mehr. Der Lukas Bienmann daheim hatte auch mehr als ein Dutzend Pferde im Stall gehabt; aber das waren leichtere Warmblüter gewesen und nicht solche Elefanten wie diese Brauereipferde.
Sie bogen von der Straße in den Stall ein. Der Korbbogen, der die Einfahrt überwölbte, war so hoch, dass sie nicht einmal den Kopf einziehen mussten, als sie darunter herritten.
»Der Wotan lahmt immer noch auf der rechten Hinterhand«, sagte Manfred zum Stallbaron.
»Komisch«, antwortete der, nahm den Wallach und führte ihn in den Innenhof.
Als die Jungen ihre Pferde in die Boxen gebracht hatten, gingen sie dem Stallbaron nach.
Der Hof war groß und mit Blaubasalt gepflastert. Den Stallgebäuden gegenüber lagen die Remisen, links ein beachtlicher Misthaufen und rechts ein Gebäude, vor dem »Schmiede« stand.
Schiller hatte Wotan an einem der eisernen Ringe angebunden, die an den Remisenpfosten angebracht waren. Willig hob der Wallach seinen Huf. Der Stallbaron hatte seine Brille aufgesetzt, tastete den Huf ab, aber sagte schließlich: »Ich kann nichts finden. Ich glaube, wir müssen, verdimmich, schon wieder den Tierarzt holen.«
»Darf ich mal sehen?«, bat Bruno.
»Sicher, du Giftzwerg. Schau nur. Ich habe nicht mehr die schärfsten Augen.«
Zunächst konnte Bruno auch nichts Ungewöhnliches entdecken, aber dann fiel ihm dicht über dem Huf ein winziges Glitzerpünktchen auf. Er strich die Behaarung beiseite und berührte die Stelle vorsichtig mit dem Finger. Das Pferd zuckte zusammen.
»Was war das?«, fragte der Stallbaron. »War da was?«
»Ich glaube wohl«, antwortete Bruno. »Da steckt was.«
»Die feine Zange!«, brüllte Schiller. »Alwin, verdimmich, hol die feine Zange aus der Schmiede!«
»Sollen wir warten, bis die Fuhrleute kommen, oder traust du dir zu, das Ding herauszuziehen?«, fragte der Stallbaron den Bruno.
»Ich trau mich«, sagte der.
»Gut«, stimmte der Mann zu. »Aber schiebe dir die Mütze aus den Augen, damit du was siehst.« Dann winkte er die Jungen herbei und sagte: »Ich halte den Huf, Alwin fasst das Halfter und du, Manni, greifst den Schweif.«
Bruno dachte nur an den Auftrag und blieb ganz kühl. Die Backen der Zange fassten das Metall. Bruno zog gleichmäßig und kräftig. Ein Schauer lief dem Pferd über das Fell, aber es wehrte sich nicht.
Es war eine Art Polsternagel aus blankem Metall, den Bruno dem Stallbaron hinüberreichte.
»Verdimmich! Der ist nie und nimmer von allein da hineingekommen«, sagte der Stallbaron. Und diesen Satz wiederholte er jedes Mal, wenn ein Gespann hereinkurvte und er den Kutschern den Nagel zeigte. »Wenn ich den Schweinehund erwische, ich drücke ihm die Gurgel zu!«
Bruno aber fühlte sich von diesem Abend an im Baronschen Stall heimisch, kannte bald alle Pferde, obwohl sie so seltsam klingende Namen trugen wie Donar und Loki und Hel und Uta und Siegfried und Baldur.
»Die ganzen Wagneropern«, spottete Alwin.
»Lauter friedliche Tiere«, lobte Manfred. »Nur vor Thor musst du dich in Acht nehmen. Das ist ein heimtückisches Biest. Ehe du dich’s versiehst, schnappt der Gaul nach dir. Und seinen Tritt nennen sie hier ›Thors Hammer‹.«
»Thors Hammer?«, fragte Bruno.
Manfred zuckte die Achseln. »Weiß ich auch nicht genau. Für so was ist Alwin zuständig. So ’n überflüssiges Zeug lernen die im Gymnasium.«
»Nur Neid«, antwortete Alwin. »Und was den Thor betrifft, das ist der, der den Donner macht. Ein Gott der Germanen.«
»Der den Donner macht?« Bruno blickte Alwin verdutzt an.
»Na ja. Er hat eine Waffe, einen Hammer. Mjöllnir heißt er. Den schleudert er in die Wolken. Das kracht und blitzt. Jedes Mal, wenn er geworfen hat, fliegt Mjöllnir zurück in Thors Hand.«
»Praktisch, so ’n Hammer«, gab Manfred zu.
»Und das lernt ihr in eurer Schule?«, fragte Bruno neugierig.
»So nebenbei«, sagte Alwin.
Bruno traute sich nicht, genauer nach der Hauptsache zu fragen. »Von so einer Schule träumen, das ist herrlich«,
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