Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
ungeduldig. Mir schoss das Blut in den Kopf. Was konnte Alois denn schon passieren? Zehn Tage geschärften Arrest würde er höchstens bekommen. Ich sprang auf, schnappte meinen Stein und schrie: ›Ich sagte es schon vor drei Stunden: Ich verkaufe nicht!‹ Ich knallte die Hacken zusammen, legte die Hand an die Mütze und rannte hinaus.
Der letzte Zug war längst abgefahren. Ich hätte ohnedies das Fahrgeld nicht bezahlen können und musste die fünfzehn Kilometer zu Fuß zur Kaserne laufen. Eine Stunde nach dem Zapfenstreich kam ich an und wanderte gleich am nächsten Morgen für drei Tage in den Bau. Einen Offizier angeschrien, über den Zapfen gehauen, drei Tage.
Am dritten Tag wurde ich schon am Vormittag aus der Arrestzelle geholt.
›Ja, weißt du es denn noch nicht?‹, fragte der wachhabende Unteroffizier. ›Der Alois hat sich linksrheinisch in der Kneipe aufgehängt.‹ Ich war wie betäubt, wurde zu Alois’ Beerdigung beurlaubt und stand schließlich an seiner Grube. Dicht an der Kirchhofsmauer wurde er verscharrt. Kein Pastor, kein Salut, ein Selbstmörder eben.
Ich hab drei Hände voll Erde auf seinen Sarg geworfen und in die letzte Handvoll habe ich den Stein gedrückt.
Auf den Fürstenberg bin ich nie mehr gegangen. Aber geschworen habe ich mir damals, dass ich nie mehr Nein sagen werde, wenn einer etwas von mir leihen will.«
»Wie wär’s denn mit ’nem Fünfziger, Papa«, stichelte Leo.
»Du Hundesohn«, fauchte Franziska und diesmal fiel ihr Tritt so heftig aus, dass Leo vor Schmerz aufjaulte.
»An der Mauer verscharrt«, murmelte Bruno. »Kein Pfarrer. So wird’s meinem Bruder auch gegangen sein. Nur, er war kein Selbstmörder.« Bruno tastete unter seinem Pullover nach dem Lederbeutel. »Ein Selbstmörder war er nicht.«
20
Klare Verhältnisse, das wollten wohl die meisten in der Blütentalstraße. Aber was sie darunter verstanden, das war sehr unterschiedlich. Die alten Cremmes’ hätten am liebsten Wilhelm II. in einer goldenen Kutsche aus Holland nach Berlin gefahren und wieder zum Kaiser gemacht. Hermann Cremmes war begeistert von seinem starken Mann aus München, der als Führer Deutschland auf die rechte Bahn leiten wollte. Er blieb mit seinen Ideen nicht allein, sondern traf sich im Hinterstübchen des Gasthauses »Zum dicken Pferd« jede Woche mit einer Gruppe Gleichgesinnter. Ein gewisser Oberst spielte dabei eine besondere Rolle.
Karl Schneider kämpfte dafür, dass die Weimarer Republik gestärkt wurde, und fand Zustimmung beim Wirt »Zum dicken Pferd«, der seinerseits im katholischen Zentrum war. Klare Verhältnisse, so glaubte Mathes in diesen Tagen, hätten die Kommunisten endlich geschaffen. Das Ruhrgebiet war schon fast eine Woche fest in der Hand der Roten Ruhrarmee. Die grüne Polizei und die Bürgerwehren waren geschlagen worden, die Reichswehr traute sich offenbar nicht einzugreifen, denn die Franzosen und Engländer achteten darauf, dass die Verträge eingehalten wurden, und diese Verträge besagten: keine deutschen Truppen näher als fünfzig Kilometer an den Rhein.
»Viel zu viel Mob ist bei der Roten Ruhrarmee«, schimpfte Frau Reitzak. »Was habt ihr nur für einen wilden Haufen unter euren roten Fahnen? Die reinsten Landsknechte sind das ja. Sie plündern und bedrängen die Leute, die anderer Meinung sind. Sie kontrollieren die Zeitungen und die weißen Flächen auf den Seiten zeigen jeden Tag, was euch nicht passt und deshalb nicht gedruckt werden darf.«
»Wo gehobelt wird, Frau Reitzak, da fallen Späne«, wehrte sich Mathes. »Wir haben schon eine ganze Menge Leute aus den eigenen Reihen abgeurteilt, die die Finger nicht bei sich behalten konnten. Damit machen wir kurzen Prozess. Ich sage euch: Täglich wird es besser werden. Jetzt, wo wir das Heft in der Hand haben, kann es für den kleinen Mann nur noch aufwärts gehen.«
Aber es kam anders, als Mathes es sich ausgedacht hatte. Ende März verschärfte sich die Lage unversehens. Die Rote Ruhrarmee sollte die Waffen abliefern. Straffreiheit wurde von der Regierung zugesichert und die Auflösung der Freikorps sei eine beschlossene Sache. Tatsächlich war die Marinebrigade Ehrhardt mit wehenden schwarz-weiß-roten Fahnen und Hakenkreuzen an den Stahlhelmen aus Berlin abgezogen worden. Die Reichswehr schien entschlossen, ins Ruhrgebiet einzurücken, wenn die Rote Ruhrarmee sich dem Ultimatum nicht beugte.
Ausgerechnet am Karfreitag, dem 2. April, sollte für die achten Schuljahre die Entlassfeier
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