Zeitbombe Internet
Charakter mehr. Deshalb werde der Verantwortliche in so einem Fall nicht mehr verfolgt. Ganz pragmatisch leiten die Richter ihre Grenze aus der Erfahrung ab, dass die Verkaufszahlen der urheberrechtlich geschützten Werke nach sechs Monaten so klein sind, dass der geringe wirtschaftliche Schaden der Musik- und Filmindustrie gegenüber dem Grundrecht auf Wahrung des Fernmeldegeheimnisses (GG Art. 10) zurückstehen müsse.
Es ist allerdings nicht so, als hätten die Richter gar kein Herz für die Musikindustrie.
Gehört ein Musikstück oder ein Album auch nach sechs Monaten noch zu den fünfzig meistverkauften Werken, dann verlängert sich die Frist. Bis die Verkäufe verschwindend gering sind.
Hacker-Romantik und Machtpolitik
Wir durchleben einen uralten Konflikt erneut. Die Staatsphilosophen der französischen Revolution wie Charles de Montesquieu wollten ihn durch einen Gesellschaftsvertrag lösen: Die Freiheiten des Einzelnen und die Ansprüche aller Beteiligten sollten gegeneinander abgewogen und geregelt werden. Ein Rechtsstaat soll diesen Gesellschaftsvertrag durchsetzen und schützen. Das ist seine Aufgabe, seine Funktion, seine Legitimation.
Im Internet schien es vor zwanzig Jahren so, als könne man diesen Gesellschaftsvertrag aussetzen, weil er sich von selbst erfüllt. Ein digitales Utopia sei entstanden, ein Ort wirklicher Freiheit, Gleichheit â und, ja, Brüderlichkeit: Die ersten Netzbewohner gingen freundlich miteinander um, sie kooperierten, und wem etwas nicht passte, der suchte sich Gleichgesinnte. So entstand eine schier unbegrenzte Zahl an sozialen und technologischen Experimenten â die friedlich koexistierten. Vor allem aber: Jeder Internetnutzer hatte Zugang zu mehr Informationen als jemals zuvor ein Mensch in der Geschichte. Genau das bezeichnet der langjährige Google-Chef Eric Schmidt als die gröÃte Errungenschaft durch das Internet: »Es ermächtigt die Menschen, weil sie mehr wissen denn je. Es ist keine Technologie, die nur einer Elite zur Verfügung steht, sondern allen.« Transparenz. Gleicher Informationsstand. Gleiche Rechte. Sollte so nicht die ideale Demokratie aussehen, eine egalitäre Gesellschaft?
Heute erinnert die digitale allerdings sehr an die reale Welt. Sie ist eben kein eigener Ort mehr, kein Utopia für Realitätsflüchtlinge in einem digitalen Paralleluniversum, sondern untrennbar mit unserem Alltag verbunden. Seither geraten die Freiheiten des einen wieder mit den Wünschen des anderen in Konflikt, und aufgrund des enormen technischen Wandels werden tausend Details des Gesellschaftsvertrags neu verhandelt: das Urheberrecht, der Datenschutz, die Vertraulichkeit der Kommunikation, die polizeilichen Methoden, die Verteidigung â und Grenzkontrollen. Das ist der Konflikt unserer Tage.
In Politik, Behörden und bei den Gerichten haben viele Menschen nämlich reichlich andere Vorstellungen als in den Foren und Chaträumen der Internetgemeinde. Sie begeistern sich eher an der Vorstellung, Computertechnologie und Internet könnten dem Staat die Möglichkeit geben, mehr Kontrolle auszuüben denn je. Das geht bei einigen so weit, dass Kritiker befürchten, der Staat könnte sich in seinem Verhältnis zum Bürger in vormoderne Zeiten zurückkatapultieren.
GroÃe Entscheidungen stehen an. Was eine Regierung hier tut, entscheidet darüber, ob ein Staat im digitalen Zeitalter gestärkt wird, oder ob er schleichend seine Legitimität verliert. Bleibt die Regierung untätig, kann der Staat bald seine Schutzfunktion nicht mehr ausfüllen, rechtsstaatliche Verfahren nicht mehr garantieren. Ãberzieht sie, kriminalisiert die Bürger, drangsaliert sie, forscht sie aus und greift damit die Grundlagen einer bürgerlichen Gesellschaft an. In beiden Fällen büÃt der Staat die Grundlage für das von den Bürgern übertragene Machtmonopol ein. Auch in Deutschland.
Denn so untätig deutsche Internetpolitiker in vielen Fragen sein mögen, ging es in den vergangenen Jahren darum, mehr Eingriffsrechte für Polizei, Staatsanwaltschaft und Geheimdienste durchzusetzen, war der politische Wille in der Regel groÃ: Dabei hat die Regierung mehrfach Grundrechte missachtet und konnte erst vom Bundesverfassungsgericht gestoppt werden.
Im Jahr 2005 fasst die Bundesregierung den Plan, Polizisten, Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) und Nachrichtendienstler sollen
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