Zeitbombe
die nicht da ist. Und wenn ich Rolf-Werner richtig verstanden habe, sind Sie über die Gründe dafür informiert.«
Lenz nickte.
»Ja, das sind wir, Frau Schneider. Trotzdem gibt es ein paar Dinge, die wir Sie fragen müssen; zum Beispiel zu dem Anruf, den Ihr Mann vorgestern Abend erhalten hat.«
»Ja?«
»Sie kannten die Stimme des Anrufers nicht?«
»Nein, ich bin sicher, dass ich sie nie zuvor gehört habe.«
»Und Ihr Mann hat, nachdem das Gespräch zu Ende war, ohne ein weiteres Wort das Haus verlassen?«
Die Frau dachte eine Weile nach.
»Nein, das ist nicht richtig. Er hat mir erklärt, dass er noch mal weg müsse. Auf meine Frage, was denn los sei, meinte er, es handle sich um so etwas wie einen dienstlichen Termin. Genauso hat er es gesagt.«
»Also wollte er sich mit dem Anrufer treffen?«
»Das vermutete ich, ja, aber gesagt hat er es nicht.«
»Die Formulierung, die er gewählt hat, klingt merkwürdig, finde ich«, mischte Hain sich ein.
»Das kann ich nur bestätigen, Herr Hain, aber mein Mann hat sich öfter einmal merkwürdig ausgedrückt.«
»Dann ist er gegangen?«
»Nein, nicht gleich. Er hat sich noch von seiner Mutter, die in der oberen Etage lebt und pflegebedürftig ist, verabschiedet und ihr eine gute Nacht gewünscht. Ich vermute aber, dass meine Schwiegermutter davon nicht viel mitbekommen hat, sie muss nämlich starke Schmerzmittel nehmen.«
»Hatte er Ihnen gegenüber den Eindruck vermittelt, dass er länger wegwollte?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Wo das Treffen mit dem Anrufer stattfinden sollte, hat er nicht erwähnt?«, fragte Hain, der mittlerweile seinen Notizblock in der Hand hielt und mitschrieb.
»Leider nicht. Ich vermutete aber, dass es nicht so weit von unserem Haus entfernt sein könnte, weil er zu Fuß unterwegs war.«
»Er hat nicht den Wagen genommen?«, hakte Lenz überrascht nach.
»Nein. Sein … unser Auto steht in der Garage.«
Lenz zögerte einen Moment, bevor er seine nächste Frage stellte.
»War Ihr Mann krank, Frau Schneider?«
»Wenn Sie damit meinen, ob er körperlich krank gewesen ist, so kann ich das mit Nein beantworten. Er war erst im Frühjahr beim Komplettcheck und nach Aussage seines Arztes kerngesund. Physisch. Auf der psychischen Ebene würde ich das nicht unterschreiben, aber ich bin keine Ärztin.«
Der Hauptkommissar hob irritiert eine Augenbraue.
»Wie meinen Sie das?«
»Norbert ist in den letzten Jahren zunehmend merkwürdiger geworden. Nach meiner festen Überzeugung hätte er längst in eine Therapie gehört, aber es war unmöglich, mit ihm darüber auch nur ein Gespräch zu führen.«
»Worüber?« wollte Hain wissen.
Britta Schneider sah wieder aus dem Fenster. Ihr Blick verlor sich in einem Rosenbeet.
»Zum Beispiel darüber, dass er unter einem Waschzwang gelitten hat. Die Haut seiner Hände war brüchig wie altes Pergament, weil er sie ständig mit scharfen Reinigungsmitteln gewaschen hat.«
Sie drehte sich um und ließ ihren Arm durch den Raum kreisen.
»Was Sie hier in diesem Raum sehen, ist ein Indiz für eine weitere Zwangsstörung. Alles hat seinen festen Platz, sogar die Fernsehzeitung liegt im rechten Winkel auf der Anrichte. Norbert ist fast irre geworden, wenn sich an dieser Symmetrie auch nur eine Winzigkeit verändert hat.«
»Und er war nicht beim Arzt wegen dieser … dieser Störungen?«, hakte der Oberkommissar nach.
»Nein. Wie ich schon gesagt habe, hat er nicht einmal ein Gespräch darüber geduldet. Für ihn war das alles die Normalität.«
Wieder gab es eine kleine Unterbrechung, bevor Lenz weiterfragte.
»Könnten Sie sich vorstellen, dass ihn diese Störungen zu einem Suizid getrieben haben? Dass er deswegen nicht mehr weiterleben wollte?«
Sie schüttelte resolut den Kopf.
»Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, Herr Lenz. Und zwar deshalb, weil ich denke, dass man einen gewissen Leidensdruck verspüren muss, bevor man aus dem Leben scheiden will, aber den hatte mein Mann ganz offensichtlich nicht. Er hatte sich in seinen Zwängen eingerichtet und lebte ganz gut mit ihnen; im Gegensatz zu seinem Umfeld.«
Lenz überhörte ihren Vorwurf an den toten Gatten nonchalant.
»Was könnte ihn demnach getrieben haben, sich das Leben zu nehmen?«
»Ist das jetzt noch wichtig? Was bringt es den Menschen, die er hier alleingelassen hat, sich mit seinen Motiven auseinanderzusetzen? Was bringt es mir ganz persönlich zu wissen, warum er sich vor den Zug geworfen hat
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