Zeitbombe
Pia allein mit dieser Arschgeige auf dem Bahngleis zurück«, murmelte die Polizistin so leise, dass weder Hain noch Lenz etwas davon mitbekamen.
*
»Mit Ihnen hätte ich jetzt aber gar nicht gerechnet, meine Herren«, wurden die beiden Kripobeamten von Dr. Franz begrüßt, der diesmal nicht auf den Knien herumrobbte, sondern mit einer Taschenlampe in der einen und etwas in einem Plastikbeutel in der anderen Hand auf dem Tritt eines offenen Waggons saß. Im flachen Licht der diffusen Beleuchtung sah er sehr entspannt aus.
»Wen haben Sie denn erwartet, Doc?«
»Eigentlich Ihre Kollegen vom Kriminaldauerdienst.«
»Die sind überlastet, deshalb haben sie uns gebeten, Ihnen ein wenig unter die Arme zu greifen.«
»Ach«, winkte der Mediziner mit einem Blick auf Hain ab, »bei Licht betrachtet, ist mir eigentlich egal, wer von Ihnen sich in meinem Beisein übergeben muss.«
Er federte mit einer schnellen Bewegung in die Höhe und deutete mit seiner großen Taschenlampe nach links.
»Schauen wir uns die Sache also mal an.«
Lenz und Hain setzten sich ebenfalls in Bewegung, und beide mussten während der ersten Schritte ein Schlucken unterdrücken.
»Wobei«, fuhr der Arzt ein paar Meter vor ihnen fort, »so furchtbar ist der Anblick gar nicht. Der Ekelfaktor war bei unserem Kunden von vor zwei Wochen deutlich ausgeprägter.«
»Ach«, ätzte Hain, »ist der heutige in einem Stück geblieben?«
»Nein«, antwortete Franz mit einem kurzen Blick über seine Schulter fröhlich, »so leicht wollte er uns die Arbeit dann doch nicht machen.«
Etwa 30 Meter weiter hatten die drei die Spitze des Zuges erreicht. Rechts von der Lok kauerte eine junge Frau im weißen Tyvekanzug auf dem Schotter des Bahngleises, die beim Näherkommen der Männer kurz den Kopf gehoben hatte.
»Das ist Frau Weber, meine neue Praktikantin«, klärte Dr. Franz die Polizisten auf, die mit erstaunten Blicken auf die Frau gestarrt hatten.
»So, so«, murmelte Lenz und streckte die rechte Hand aus, doch Frau Webers Oberkörper blieb unter der Lok verborgen.
»Alles klar bei Ihnen?«, rief der Arzt in ihre Richtung.
»So weit, ja«, lautete die Antwort. »Ich bin gerade dabei, den Oberkörper aus einer Hydraulikleitung zu befreien.«
Lenz warf Hain einen kurzen Blick zu, doch der junge Oberkommissar fixierte die Tunnelwand.
Die Praktikantin beugte sich ein wenig weiter nach vorn, sodass fast ihr gesamter Körper unter der nach einem gewaltigen Bremsmanöver stinkenden Lok verschwand, um danach mit einem Ruck nach hinten zu stürzen.
»Mist«, murmelte sie und sprang, etwas mit der rechten Hand umklammernd, mit einem Satz in die Höhe.
»Sportlich, sportlich«, lobte Dr. Franz. »Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«
Sie bedachte ihn mit einem Blick, der auch im Innern des muffigen, dampfigen Tunnels noch eisige Kälte ausstrahlte.
Dann reichte sie ihm das, was sie in der Hand hielt.
»Eine Brieftasche«, bemerkte der Mediziner trocken, griff nach vorn, übernahm das geborgene Beweisstück und reichte es an Lenz weiter.
»Das ist bei Ihnen besser aufgehoben, Herr Kommissar«, schob er nach.
Lenz bedankte sich und trat ein paar Schritte zurück. Die Praktikantin sank wieder auf die Knie und setzte die Bergung des Leichnams fort, während Dr. Franz sich in Bewegung setzte, um offenbar auf die andere Seite des Zuges zu gelangen. Hain kam auf Lenz zu und reckte die Hand mit einer kleinen Taschenlampe in die Höhe.
»Vielleicht sollten wir besser nach draußen gehen?«, meinte er leise.
»Nein«, gab Lenz ebenso leise zurück und öffnete das lederne Mäppchen.
»Ein Zeitplaner«, stellte er überrascht fest.
Auf der rechten Seite sahen die Beamten die oberste Seite eines von Blutspuren durchzogenen Kalenders mit der Aufschrift:
›Monatliche Vormerkplanung für das Jahr 2011‹.
Darunter waren in kleinen Blöcken die einzelnen Monate aufgeführt, am rechten äußersten Rand lag übereinander das Register der detaillierten Monatsblätter. Links neben den Ringheftern steckten, ebenfalls blutbeschmiert, Kredit- und sonstige Karten. Lenz bückte sich, legte den Timer vorsichtig vor sich auf den Boden, zog ein paar Einweghandschuhe aus der Sakkotasche und schlüpfte hinein.
»So ist es besser«, kommentierte er sein Handeln, nahm das Fundstück wieder in die Hand und zog eine EC-Karte heraus. Auch die kleine Plastikkarte war mit Blut überzogen.
»Ich will gar nicht wissen, wie es unter der Lok aussieht«, flüsterte Hain
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