Zeiten des Verlangens
Dann wurde ihr bewusst, wie absurd das war. Was kümmerte es sie, wenn ihm ihre Schuhe nicht gefielen? Für wen hielt er sich, dass er ihr vorschrieb, was sie anzuziehen hätte. Vielleicht mochte sie gemütliche Schuhe und praktische Unterwäsche. Sie war eine ganz normale Person, nicht ein Foto von Astrid Lindall an der Wand einer Kunstgalerie, oder Bettie Page in einem Hochglanzbildband.
Sebastian eröffnete das Meeting mit einem Schnelldurch lauf der Preisanwärter und den Terminen, zu denen die G re miumsmitglieder ihre Leselisten mit den ausgewählten Fav oriten abgeben sollten. Daraus entspann sich eine Debatte über die Auslassung einer Kurzgeschichtensammlung, doch Regina konnte kaum folgen. Ein einziges Mal wagte sie auf zublicken und erhaschte einen Blick von Sebastian, der mit den Händen gestikulierte; und sie stellte sich vor, wie diese Hände sie berührten, ihr vielleicht beim Anziehen halfen, so wie Jess es getan hatte. Doch anders als Jess würde er um sie herumlangen und ihre nackten Brüste umfangen …
»Regina?«, sprach er sie an. Sie blickte auf. Schlagartig wurde ihr heiß. Binnen Sekunden war ihre Stirn mit einem Schweißfilm überzogen. Was war das? Ein Kreislaufkollaps?
»Ja?«, fragte sie. Klang ihre Stimme normal? Sie wusste es nicht. Er sah so verdammt gut aus. Warum schien das dem Rest der Runde zu entgehen? Allen außer Sloan natürlich. Regina kam nicht umhin zu bemerken, wie sich ihre Chefin zu ihm neigte und ganz benommen lächelte und agierte. Es war schwierig, dieses Gehabe mit der Gereiztheit zu vereinbaren, die Regina normalerweise im Umgang mit ihrer Chefin entgegenschlug.
»Irgendwelche Kommentare zu den Romanen, die du bis jetzt gelesen hast?« Er lächelte geduldig. Regina spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen Versammelten.
»Äh, ja«, räusperte sie sich. »Ich habe gerade einen Krimi fertig gelesen, der mich an Tana French erinnert, jedoch in den Südstaaten der Siebzigerjahre spielt. Definitiv ein Anwärter.«
»Ich bin so froh, dass ich jemanden gefunden habe, der die Zeit zum Lesen hat«, meldete sich Sloan zu Wort, als wäre Regina ihre große Entdeckung.
»Wirklich ein Jammer, dass Margaret uns dieses Jahr nicht unterstützen kann«, bemerkte ein anderes Gremiumsmitglied wehmütig. »Sie hat ein unfehlbares Gespür.«
»Warum ist sie dieses Jahr nicht dabei?«, fragte Regina. Diese ganze Young-Lions-Geschichte war nichts für sie. Vielleicht konnte Margaret ihren Platz im Literaturgremium übernehmen. Dann müsste sie nicht jeden Tag in der Arbeit fürchten, plötzlich zu einem Meeting mit Sebastian gerufen zu werden. Das brachte einfach ihren ganzen Tag durcheinander. Verdammt, es brachte ihren Atemfluss durcheinander.
»Ich bitte Sie, Regina. Die arme Frau kann kaum sehen, geschweige denn, einen Stapel Bücher in einem Monat bewältigen«, erklärte Sloan.
»Wir haben genug Leser«, sagte Sebastian. »Etwas anderes ist es mit den Autoren. Wo finden wir Ersatz für Jonathan Safran Foer? Hat irgendwer einen Vorschlag?«
Irgendjemand nannte Jay McInerney, und der Rest der Runde stöhnte. »Schon wieder?«
Regina wusste, wen sie gern in der Bibliothek gesehen hätte. Sie hatte gerade zum zweiten Mal »Fluss der Wunder« gelesen und fand außerdem toll, dass Ann Patchett ihren eigenen Buchladen in Nashville eröffnet hatte, zu einer Zeit, in der fast alle anderen dort schlossen.
»Wie wäre es mit Ann Patchett?«
Ein Murmeln hob um den Tisch herum an.
»Wir bevorzugen New Yorker für die Reihe«, tat Sloan ab. »Wir brauchen die Autoren für viele Veranstaltungen, und Leute von außerhalb wollen immer ihre Reisekosten erstattet bekommen.«
»Es ist kein schlechter Gedanke«, widersprach Sebastian. »Ich habe gerade eine Wiederholung von Colbert Report gesehen, wo sie zu Gast war. Sie war sehr charmant.«
»Sie macht sich wirklich für das Lesen stark«, bemerkte jemand anderes.
»Schauen wir sie uns mal an«, meinte Sebastian. »Nehmt sie in die engere Wahl auf. Und Doris, vielleicht könnten Sie bei HarperCollins nachfragen, wie es terminlich bei ihr aussieht.«
Dann bemerkte Regina, dass alle aufstanden und ihre Unterlagen einsammelten. Das Meeting wurde vertagt.
Sie rappelte sich auf und warf sich ihre Old-Navy-Tasche über die Schulter.
»Regina, du bleibst. Ich möchte noch ein paar Dinge mit dir durchgehen, die zu erledigen sind. Sloan, kannst du sie noch einen kleinen Moment lang entbehren?«
Sloan war sichtlich verärgert. »Das
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