Zeiten des Verlangens
er an ihr vorbei die Treppe hinunter.
14
So sehr Regina der Versuchung widerstanden hatte, an der Ausleihe zu lesen – sie empfand es als respektlos gegenüber den Bibliotheksbesuchern, die ihre Hilfe brauchten –, konnte sie es doch rechtfertigen, wenn es um den Literaturpreis der Young Lions ging. An diesem Morgen stapelten sich gerade die ersten Anforderungsscheine an ihrem Schalter, als sie einen Roman von ihrer Liste aufschlug. Es handelte sich um das Debut einer jungen britischen Autorin, deren Vater preisgekrönter Romanautor war. Regina konzentrierte sich gerade darauf, ob man einen stilistischen Einfluss des Vaters erkennen konnte, als Alex übertrieben laut »Hallo!« rief.
Verwundert bemerkte sie, dass er gar nicht sie, sondern die tätowierte Frau vom Kurier begrüßte, die zurückgekehrt war.
»Hallo«, sagte die junge Frau, sah dabei aber Regina und nicht ihn an. »Eine Unterschrift hier.« Sie reichte Regina eine pink-schwarze Einkaufstasche, die sie schnell hinter dem Schalter verschwinden ließ. Regina unterschrieb und hielt regelrecht die Luft an, während sie darauf wartete, dass die junge Frau wieder ging.
Dann schielte sie auf die Einkaufstasche zu ihren Füßen. An den schwarzen Plastikgriffen hing ein Umschlag. Sie zog ihn ab und öffnete ihn.
Guten Morgen, Regina,
es hat mich gefreut, Dich gestern Abend in der Galerie zu sehen. Ich hoffe, die Ausstellung hat Dir gefallen – und unsere Unterhaltung.
Das bringt mich zu der Einkaufstasche. Sie enthält ein Paar Louboutin-Schuhe und etwas Unterwäsche. Bitte zieh beides unverzüglich an.
S.
Reginas Hände zitterten, als sie die Nachricht in ihre Old Navy Tasche steckte.
»Jetzt mal im Ernst, Ms. Finch – was geht hier vor?« Alex erschien wieder hinter ihr.
»Nichts«, flötete sie.
Das Telefon an ihrem Tisch klingelte, und Alex zog sich dankenswerter Weise zurück, um dranzugehen, und ließ sie allein mit ihrer Tasche. Regina schielte hinein und entdeckte einen flachen, schwarzen Karton mit goldener Schleife. Darauf stand in Goldlettern »Agent Provocateur: Soirée«.
Es war unmöglich, die Schachtel unauffällig an ihrem Schalter zu öffnen.
»Es ist für dich«, meinte Alex und reichte ihr das Telefon. Sie sah ihn fragend an, und er zuckte die Schultern.
»Hallo?«, fragte sie.
»Regina, ich bin’s, deine Mutter.«
Ihr Magen zog sich zusammen. »Mom, ich bin in der Arbeit. Warum rufst du mich hier an?«
»Ich müsste dich nicht anrufen, wenn du dich ab und an von selbst melden würdest. Glaubst du, diese Umgewöhnung ist leicht für mich?«
»Okay, es tut mir leid. Ist alles in Ordnung?«
»Es ist okay. Ich gewöhne mich daran, allein zu sein. Ich schätze, man kann sich an alles gewöhnen.«
Regina hatte gehofft, dass ihr Umzug nach New York ein Anstoß für ihre Mutter wäre, endlich ihr eigenes Leben zu leben – und damit aufzuhören, ihre Zurückgezogenheit damit zu entschuldigen, dass sie verwitwet und alleinerziehend war. Aber offensichtlich war diese Hoffnung naiv gewesen.
»Ich kann jetzt wirklich nicht telefonieren, Mom.«
»Was machen wir an deinem Geburtstag?«
»Was?« Reginas Geburtstag stand in zwei Wochen bevor. Sie hatte noch nicht groß darüber nachgedacht, aber ihre Mutter hatte sie nun wirklich nicht mit eingeplant.
»Schön, wenn du darauf bestehst, komme ich zu dir. Wir gehen essen. Reserviere etwas in der Nähe der Bibliothek. Ich will dein Büro sehen.«
»Regina?«
Regina blickte auf und sah, dass Sloan vor ihr stand.
»Was tun Sie denn da?«
»Äh … nichts«, sagte Regina. Dann sagte sie leise ins Telefon: »Ich muss auflegen.«
»War das ein Privatgespräch?«
»Nein«, log sie. Sie sah, wie Sloans Blick zur Einkaufstasche wanderte. Regina stieß sie mit dem Fuß unter den Tisch.
»Sagen Sie Alex, dass er für Sie einspringen soll. In zehn Minuten findet ein Young-Lions-Treffen statt.«
❊ ❊ ❊
Der Vorstandssaal war nicht so voll wie beim letzten Mal. Es schien, als wären nur die Mitglieder des Literaturgremiums da, sodass es für Regina unmöglich war, sich im Hintergrund zu halten.
»Sie sitzen hier, Regina«, erklärte Sloan und zog den Stuhl neben sich heraus. Sie selbst setzte sich direkt neben Sebastian.
Regina konnte seinen glühenden Blick spüren, doch sie hielt den Blick starr auf den gelben Schreibblock vor sich gerichtet. Sie dachte an die Anweisungen, die er ihr geschickt und die sie ignoriert hatte. Unsinnigerweise überkam sie einen Moment lang Panik.
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