Zeitenlos
konzentrierte mich auf seine vollen Lippen. Fast magisch wurden meine Augen von den feinen Fältchen in seinen Mundwinkeln angezogen, die bestimmt vom vielen Lachen kamen. Ohne nachzudenken streckte ich mich schnell und drückte meine Lippen auf seine. Ich glaube, es war eine Reflexreaktion, damit er nicht spürte, wie nervös ich war. Aber was auch immer es war, ich küsste ihn. Er umfasste behutsam mein Gesicht mit seinen Händen, und mir lief ein warmer Schauer über den Rücken. Er küsste mich zurück, zärtlich. Mein Herz legte einen Gang zu und raste.
Dann zog er sich sehr langsam einige Zentimeter zurück, und als ich die Augen öffnete, studierte er mein Gesicht. Verlegen überlegte ich, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Für mich hatte es sich richtig angefühlt, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Ich suchte in seinen Augen nach einem Zeichen und fühlte, wie es in meiner Brust brannte. Weil ich ihm unbedingt näher sein wollte, zog ich ihn spontan wieder an mich und küsste ihn erneut.
Ich hatte keine Ahnung, was mich dazu gebracht hatte, aber ich brauchte die Wärme, die mir seine Lippen gaben. Alles fühlte sich gut an. Unsere Lippen bewegten sich im gleichen Rhythmus, als hätten wir uns schon tausend Mal geküsst. Meine Muskeln schienen zu Brei zu werden, aber anstatt zu fallen, hatte ich das Gefühl zu schweben. Er umarmte mich fester, während wir uns einen schier unendlichen Augenblick küssten, dann zog er sich etwas zurück und lehnte seine Stirn an meine. Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange. Wir standen regungslos, während unausgesprochene Gedanken in unseren Köpfen nachklangen. Und dann suchten seine Lippen wie zur Bestätigung noch einmal meine in einem ebenso sanften wie kurzen Kuss, bevor sein Verantwortungsgefühl ihm diktierte, dass wir besser gehen sollten.
Auf dem Weg zum Wagen ging ich den Kuss in Gedanken noch einmal durch. Es war mein erster richtiger Kuss gewesen, und ich wünschte mir, seine Gedanken lesen zu können, um sein Verhalten zu verstehen. Es war so frustrierend. Ich war es gewöhnt, mich immer unter Kontrolle zu haben, doch jetzt hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, nicht ich selbst zu sein, sondern mich in jemanden zu verwandeln, der diesen Typen mehr als alles andere auf der Welt wollte. Ich konnte nicht beschreiben, was in mir vorging, wenn ich mit ihm zusammen war. Mein Verstand wusste so wenig von ihm, aber in meinem Herzen kannte ich ihn in- und auswendig. Deshalb war ich auch so sicher, dass ich ihn wollte.
An jenem Tag wurde mir klar, dass ich niemals mehr dieselbe sein würde. Ich wollte ihn nicht nur in meinem Leben haben, ich hatte das Gefühl, als sollte ich mit ihm zusammen sein, auch wenn das keinen Sinn ergab.
Kapitel 5
Stumme Geschichten
A ls wir am Samstag unterwegs zu seinem Haus waren, schien es die ganze Zeit nur bergauf zu gehen. Wir waren von der Schnellstraße auf eine schmale, kurvenreiche Straße abgebogen. Sie zweigte nicht weit vom Aussichtspunkt ab, war aber nur für jemanden erkennbar, der gezielt danach Ausschau hielt.
»Und du wohnst hier oben ganz allein?«
»Ja.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Findest du das seltsam?«
»Nein. Ich frage mich bloß, warum du nicht auf dem Campus wohnst?«
»Ach, ich habe lieber meine Ruhe, statt ständig so viele Leute um mich herum zu haben.«
»Fühlst du dich nicht manchmal einsam?« Von Zeit zu Zeit kamen wir an einer Auffahrt vorbei, aber ich sah nirgends Häuser. Ich schätzte meine Privatsphäre auch, hatte aber trotzdem nichts gegen Nachbarn in Sichtweite. Es gab einem irgendwie ein Gefühl von Sicherheit, wenn andere Menschen in der Nähe waren, auch wenn ich nicht viel Kontakt zu ihnen hatte.
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe das Haus extra gekauft, um allein zu sein.«
»Du hast es gekauft?« Es war schon eigenartig, ihn so reden zu hören. Das Einzige, was ich je gekauft hatte, war mein Auto, und dabei hatten mich Mama und Kerry auch noch finanziell unterstützen müssen. Ein Haus zu kaufen würde mir im Traum nicht einfallen. Ich kam mir wahnsinnig jung vor.
»Ja. Mein Onkel hatte rund dreißig Kilometer von hier ein Haus, in dem ich nach seinem Tod auch eine Zeitlang gewohnt habe. Aber dann war mir nach einem Tapetenwechsel, ich wollte etwas Eigenes. Also habe ich das Haus verkauft und dieses hier gekauft.«
»Seit wann wohnst du darin?«
»Seit ich achtzehn bin.«
Ich beschloss, mir weitere Fragen vorerst zu verkneifen.
Es war eine
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