Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
inzwischen sonst wo sein, höchstwahrscheinlich aber dort, wo Sebastiano sein Logis hatte. Dummerweise hatte ich – im Gegensatz zu José, der es anscheinend wusste – nicht die geringste Ahnung, wo das war. Ich hatte schlichtweg versäumt, Sebastiano danach zu fragen, obwohl es durchaus ein paar Gelegenheiten dafür gegeben hatte. Wieder eine Nachlässigkeit mehr, die ich zu verantworten hatte.
Außer Atem vom Rennen blieb ich auf der Place de Grève in der Nähe des sandigen Flussufers stehen, um mir die schmerzenden Seiten zu halten – und musste im nächsten Augenblick zur Seite springen, weil ich eine Einfahrt blockierte, aus der gerade ein gigantisches Weinfass gerollt wurde.
»Passt auf, ihr Hornochsen«, brüllte der Mann, der die Aufsicht führte. Die zwei Knechte, die das Fass in Richtung eines Fuhrwerks bugsierten, schwitzten und fluchten, und einer der beiden versuchte, mir im Vorbeigehen einen Tritt zu verpassen, wahrscheinlich weil ich gerade in Reichweite stand und er seinen Ärger loswerden musste.
»Du kannst doch keine Frau treten, Philippe«, rief sein Kollege feixend.
Philippe. Philippe ! Das war die Lösung! Keuchend und nach Luft schnappend rannte ich weiter. Philippe wusste, wo Sebastiano wohnte, weil er ihm Gastons Botschaften überbracht hatte! Er konnte mir die Adresse sagen, und ich würde hinrennen wie der Blitz. José würde sicher dort warten, dann konnte ich ihm alles erzählen.
Ob er wohl sauer auf mich sein würde?
Nein, er wird volles Verständnis für deine Unfähigkeit haben, höhnte meine innere Stimme. Nicht alle Zeitwächter sind hundertprozentig perfekte Profis. Es gibt unter ihnen leider ziemliche Versager.
Ganz klar, ich war einer davon. Irgendwie schaffte ich es immer wieder, alles zu ruinieren. Oder mit meinen tollen Ideen kein Stückchen weiterzukommen. Beispielsweise, als ich völlig am Ende meiner Kräfte bei der Schneiderei eintraf und Philippes Vater mir mitteilte, dass sein Sohn leider mal wieder nicht zu Hause sei.
»Wisst Ihr denn zufällig, wo ich ihn finden kann?«, japste ich.
»Er wollte sich eine Theaterprobe ansehen.«
»Danke!«, rief ich, schon unterwegs zur nächsten Etappe.
»Wie gefällt Euch das Kleid?«, rief er mir hinterher.
»Die Herzogin hat’s mir noch nicht gezeigt!«
Du liebe Zeit, an Marie hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Sie war bestimmt längst verrückt vor Sorge, weil ich schon den zweiten Tag weg war. Ich hätte vorhin wenigstens kurz bei ihr reinschauen und ihr sagen können, dass mit mir alles in Ordnung war.
Bloß hätte ich dann noch mehr Zeit verloren. Und ihr außerdem erklären müssen, was mit den Brillanten passiert war.
Zwei Ecken weiter kriegte ich kaum noch Luft. Von Seitenstichen gepeinigt begriff ich, dass alles viel schneller gehen würde, wenn ich eine Kutsche benutzte. Wozu hatte ich meinen Notgroschen? Der hatte bislang alle Zeitsprünge und sonstigen Abenteuer unbeschadet überstanden. Jetzt war es an der Zeit, darauf zurückzugreifen. Schnaufend kletterte ich in die nächste Mietkutsche, ein offener Einspänner wie der, mit dem Sebastiano und ich zum Theater gefahren waren. Auf dem Weg zum Hôtel de Bourgogne versuchte ich, wieder einen klaren Kopf zu kriegen und ein paar Reservepläne zu schmieden, etwa für den Fall, dass Philippe gar nicht im Theater war. Zum Beispiel könnte ich den Kardinal mit vorgehaltener Waffe (ich würde mir dafür Opa Henris Säbel ausborgen) zwingen, mir das Collier zu geben. Oder ich könnte im Ballsaal des Louvre ein Feuer legen, dann müsste das Schloss geräumt und das Event verschoben werden.
Aber das war natürlich alles Quatsch. Ich fing wieder an zu weinen und war in Tränen aufgelöst, als die Kutsche vor dem Theater anhielt.
»Ist alles in Ordnung, Mademoiselle?«, fragte der Kutscher.
»Nein«, schluchzte ich. »Ich glaube, ich bin im falschen Film.« Das wurde wie üblich in Kostümstück umgewandelt, worauf der Kutscher mich zweifelnd ansah.
»Soll ich Euch vielleicht lieber zu einem anderen Theater fahren?«
»Nein, schon gut. Wartet hier auf mich.«
Ich heulte immer noch, als ich in den Zuschauerraum kam, doch trotz meiner tränenverschleierten Augen konnte ich gut sehen, dass Philippe und Cécile in der ersten Reihen saßen und knutschten. Sie fuhren auseinander, als ich mich bemerkbar machte.
»Anna! Du lebst!« Philippe sprang auf und kam durch den Mittelgang zwischen den Bänken zu mir herübergerannt. Er strich mir vorsichtig über die
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