Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
verdattert.
»Du standest gerade in der offenen Tür und hast dem alten Mann nachgeschaut«, erinnerte er mich. »Und da dachte ich, ich sage dir rasch Guten Abend.«
Abend war untertrieben. Mittlerweile war es nach Mitternacht. Vorhin, als ich im Salon gewesen war, hatte die Standuhr zwölfmal geschlagen.
»Das ist … ähm, nett von dir.« Ich überlegte wie rasend, was ich jetzt machen sollte. Er durfte auf keinen Fall die Königin sehen! Schon gar nicht in Begleitung des Herzogs. Dann hätte er genau die Beweise, die der Kardinal noch brauchte, um die Königin beim König anzuschwärzen. Vielleicht würden dem Herzog sogar die Diamanten aus dem Hemd hängen, dann würde Sebastiano auch hieraus gleich die passenden Schlüsse ziehen und dem Kardinal die noch fehlende Munition liefern.
Bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte, spazierte Sebastiano an mir vorbei in die Halle und sah sich anerkennend um. »Ziemlich nobel hier. Äußerst elegant. Das fiel mir kürzlich schon auf, als ich zu dieser Soiree herkam. Ein Mann von Stil und Geschmack, der Herzog.«
Ich erschrak fürchterlich. Erst mit ein paar Sekunden Verzögerung ging mir auf, dass er von einem anderen Herzog sprach – dem dahingegangenen Gatten von Marie.
»Ja«, stieß ich hervor. »Sehr geschmackvoll.«
Er schlenderte zu der großen Prachttreppe, die zur Galerie hinaufführte. Mit den Fingerspitzen fuhr er über das kostbare Schnitzwerk des Geländers, während er die großen Gemälde betrachtete, die im Treppenaufgang hingen.
»Dieses Palais wäre eines Königs würdig.« Er drehte sich zu mir um und blickte mich an. »Oder einer Königin.«
Er hatte sie beschattet! Ob er auch beobachtet hatte, wie der Herzog eingetroffen war? Wollte er die beiden in flagranti erwischen? Oder war seine Bemerkung nur ein Versuchsballon, um mich zu verunsichern?
Ich folgte ihm, bereit, ihn mit allen Mitteln daran zu hindern, nach oben zu gehen.
»Was genau hast du vor?«, platzte ich heraus. In meinem Kopf purzelten die Fragen wild durcheinander, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Schon deshalb nicht, weil Sebastiano wieder unglaublich gut aussah. Hochgewachsen und breitschultrig, mit den engen Beinkleidern und dem taillierten Samtwams, wirkte er wie der Held eines spannenden Abenteuerromans. Der weiße Hemdkragen, das gebräunte, bärtige Gesicht, die unwiderstehlichen blauen Augen – gegen seine Anziehungskraft war ich schlicht machtlos. Ja, er war ein Spion und stand auf der falschen Seite, aber ich war rettungslos in ihn verliebt.
Etwas in meinem Blick musste ihn erreicht haben, ich spürte sofort, wie Funken zwischen uns übersprangen und die Luft sich von diesem besonderen Magnetismus auflud, der uns von Anfang an zueinander hingezogen hatte. In seinem Gesicht, das die ganze Zeit absolut ausdruckslos gewesen war, fing es mit einem Mal an zu arbeiten. Widerstrebende Regungen zeigten sich darin – zuerst Unwillen und Misstrauen, dann eine Spur von Resignation und schließlich unverhülltes Begehren.
»Anna«, sagte er. Seine Stimme klang rau. »Der Teufel soll mich holen, aber im Augenblick will ich nur eins – dich küssen.«
»Oh«, erwiderte ich mit schwacher Stimme. Mir wackelten die Knie.
Danach konnte ich eine ganze Weile nichts mehr sagen. Er packte mich und zog mich mit solchem Schwung an sich, dass meine Füße ein paar Zentimeter über dem Boden baumelten. Sein Mund verschlang meinen geradezu. Ich stöhnte verzückt und zerfloss in seinen Armen zu einer willenlosen, wachsweichen Masse. Während ich seinen Kuss begeistert erwiderte, kam mir mein Denkvermögen komplett abhanden. Erst, als ich von irgendwoher ein schwaches Geräusch hörte, schrillte tief im hintersten Winkel meines Verstandes ein Warnglöckchen. Die Königin und der Herzog! Wenn sie plötzlich auf der Bildfläche erschienen, war alles zu spät! Ich musste Sebastiano irgendwie vom Schauplatz des Geschehens wegbringen.
»Wollen wir … äh, spazieren gehen?«, fragte ich schwer atmend, als wir beide den Kuss kurz unterbrachen, um Luft zu holen.
»Nein.«
»Oder etwas essen? Wir können in die Küche gehen und nachschauen, was noch da ist. Das wollte ich sowieso gerade machen.«
»Nein.« Er küsste mein Ohr und drückte sich mit eindeutigen Absichten an mich. »Ich möchte lieber was anderes.«
Oh. Das war … genau das, was ich auch wollte.
»Ich könnte dir mein Zimmer zeigen«, entfuhr es mir, bevor ich nachdenken konnte.
»Gern«, sagte er.
Im Geiste
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