Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
kann …«, sagte ich, von Mitleid übermannt.
»Natürlich. Wir müssen Wasser holen«, sagte Clarissa munter. »Und im Laden gibt es auch eine Menge zu tun.«
Als wir nach unten kamen, wurden wir von einer mürrisch dreinblickenden Matilda in Empfang genommen. Sie stand am Küchentisch und schnitt eine gewaltige Dauerwurst in Stücke, von denen sie sich während der Arbeit eins nach dem anderen in den Mund schob. Bei ihr am Tisch hockte ein verhutzeltes Männlein, das erst auf den zweiten Blick zu sehen war, weil Matilda mit ihrer massigen Gestalt davorstand. Vermutlich war das ihr Gatte Jacopo. Als er mich sah, lächelte er freundlich. »Da ist sie ja«, sagte er. »Noch ein armes Findelkind! Eine zweite Sonne in unserer bescheidenen Hütte! Wie ist dein Name, kleine Sonne?«
»Anna«, sagte ich geschmeichelt.
»Wie?«
»Anna.«
Er hielt eine Hand hinter das Ohr und blickte mich fragend an.
»Anna, Herrgott noch mal«, brüllte Matilda.
Ich fuhr zusammen, wünschte den beiden aber trotzdem einen guten Morgen und bedankte mich für die Übernachtung.
»Zeit, dass jemand Wasser holt«, meinte Matilda missmutig.
»Wir sind schon so gut wie weg«, erklärte Clarissa. Sie eilte nach oben und holte zwei steifleinene Hauben, von denen sie mir eine auf den Kopf stülpte.
»Das ist so Sitte«, erklärte sie.
Sie fasste mich unter und zog mich durch den Ladenraum hinaus auf die Gasse.
»Sollte ich nicht hierbleiben?«, fragte ich. »Was ist, wenn Sebastiano gleich kommt, um mich abzuholen?«
»Das wird nicht geschehen, keine Sorge. Es hat ja vorhin erst zur Prim 6 geläutet. Vor der Non 7 hat er sich noch nie blicken lassen. Bis dahin haben wir uns beide längst die Haare gewaschen.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr in dem Punkt zu vertrauen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was Prim und Non bedeuteten.
Unser Weg führte uns kreuz und quer durch einige Gassen, über ein paar kleinere Brücken, ein Stück weit einen Kanal entlang und schließlich unter einem Torbogen hindurch auf einen Kirchplatz. Ich versuchte gar nicht erst, mir den Weg zu merken, denn ich würde ja nicht mehr lange hierbleiben.
Bei Tageslicht besehen musste auch dem Dümmsten klar werden, dass dies wirklich die Vergangenheit war. Nur ein Teil der Gassen war gepflastert, bei manchen bestand der Belag aus festgestampftem Lehm. An etlichen Häusern waren die Fenster nicht mit Butzenscheiben versehen, sondern bloß mit Wachstuch oder Tierhäuten bespannt.
Und dann die Leute! Ich wusste, dass es unhöflich war, fremde Menschen anzustarren, doch ich konnte nicht anders. Alle, die unseren Weg kreuzten, waren angezogen wie auf den uralten Bellini-Gemälden, die ich in der Accademia gesehen hatte.
Man konnte auch ohne Geschichtskenntnisse leicht erkennen, wer Geld hatte und wer nicht: Die Sachen der armen Leute waren verschlissen, manche regelrecht zerlumpt, während die Bessergestellten gediegen gekleidet waren, teilweise sogar richtig edel.
Die einen sah man in derben Gewändern und bäuerlichen Schuhen vorbeigehen, die anderen in Samt und Seide. Hier und da spielten verdreckte, barfüßige Kinder.
Ähnliche Gegensätze gab es bei den Häusern. Windschiefe, vergammelte Hütten standen neben neu erbauten, mit kunstvollen Fresken und Marmorloggien verzierten Palazzi.
Dasselbe bei den Booten: farbig gestrichene, mit leuchtenden Stoffen ausgelegte Gondeln dümpelten in einer Reihe mit morschen Kähnen.
»Es gibt hier keine Arme-Leute-Viertel«, erklärte Clarissa auf meine Frage. »Es ist ganz anders als in Paris. In Venedig findet sich Arm neben Reich, ganz nah beieinander. Hier würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, im Namen der Revolution die Paläste der Reichen niederzubrennen, denn das würde auch die Behausungen der Armen vernichten.«
Wir gingen zu der Zisterne in der Mitte des Kirchplatzes. Rund um den Brunnen hatten sich Frauen zum Wasserschöpfen versammelt, für die meisten von ihnen anscheinend eine gute Gelegenheit, sich zu unterhalten. Schwatzen und Lachen schallten uns entgegen.
Clarissa füllte den mitgebrachten Kübel und plauschte unterdessen mit einigen Frauen.
Ich merkte, wie mich neugierige Blicke trafen, und war froh, als wir wieder abzogen.
Wir schleppten den vollen Kübel gemeinsam, so ließ er sich leichter tragen. Nach einer Weile übernahm ich ihn ganz, immerhin war ich um einiges größer und kräftiger als die zarte Clarissa. »Musst du jeden Morgen Wasser holen?«, fragte ich.
»Einer muss
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