Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
beunruhigende Gedanke begleitete mich in den Schlaf.
Glockengeläut ließ mich hochschrecken. Im ersten Moment schoss mir durch den Kopf, wieso ich mir so einen komischen Weckton runtergeladen hatte. Außerdem erinnerte ich mich an einen abgefahrenen Traum, in dem ich mit einer roten Gondel in der Vergangenheit gelandet war.
»Mist«, murmelte ich, als ich merkte, dass es gar kein Traum war.
Es wurde gerade erst hell. Clarissa war schon aufgestanden und zog sich ein braunes Gewand über. Es ähnelte dem Kleid, das Bart mir gestern gegeben hatte. Offenbar war das der hier angesagte Look. Nur ihre Schuhe waren anders; sie schlüpfte in Holzpantinen, die deutlich klobiger aussahen als die weichen Lederschuhe, die ich von Bart bekommen hatte.
Bart … Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er mit diesem Sebastiano hier auftauchte, bis dahin sollte ich unbedingt abmarschbereit sein.
Ein Blick in den Handspiegel zeigte mir, dass ich aussah wie die Taubenlady bei Kevin allein zu Haus . Entsetzt griff ich nach dem Kamm und versuchte, die Zotteln zu entwirren. Ohne großen Erfolg. »Gibt es hier eine Möglichkeit, sich die Haare zu waschen?«
Clarissa lachte. »Dieses Jahrhundert mag rückständig sein, aber eines muss gesagt werden: An Reinlichkeit ist man hier meiner eigenen Zeit voraus. Man wäscht sich deutlich öfter als in dreihundert Jahren.«
»Verstehe.« Das tat ich wirklich, denn irgendwo hatte ich gelesen, dass man sich in der Zeit des Rokoko, also der Epoche, aus der Clarissa stammte, hauptsächlich mit Parfüm und Puder frisch machte, weil man zu häufiges Waschen für ungesund hielt. Fing jemand an zu müffeln, musste eine Ladung Eau de Toilette reichen.
»Womit wäschst du dich denn?«, fragte ich.
»Hiermit.« Clarissa zog eine große tönerne Waschschüssel unter ihrem Bett hervor. »An Sommertagen, so wie diesem, wasche ich mich allerdings im Innenhof, dazu nehme ich einen Holzkübel mit warmem Wasser mit nach draußen. Wir können später Wasser heiß machen, wenn du willst. Dann waschen wir uns gegenseitig die Haare. Zu zweit geht es leichter.« Spielerisch griff sie sich in die langen blonden Locken. »So sehen wir hübsch aus, falls Sebastiano heute tatsächlich kommt.«
»Warum sollte er nicht kommen?«, fragte ich, unfähig, die Besorgnis zu unterdrücken, die sich bei Clarissas Worten einschleichen wollte.
Sie hob die Schultern. »Er ist ein viel beschäftigter Mann.«
»Mann? Wie alt ist er überhaupt?«
»Einundzwanzig, also genauso alt wie ich.«
»Oh«, sagte ich lahm. Ich hatte sie für viel jünger gehalten und kam mir auf einmal unbedarft vor mit meinen Siebzehneinhalb.
Neugierig betrachtete ich sie. »Warum bist du eigentlich nicht nach Hause zurückgekehrt?«
Ihre Miene wurde düster. »Es hat einfach nicht geklappt.«
»Warum denn nicht?«
»Wenn ich das nur wüsste«, sagte Clarissa. »Was würde ich darum geben, es herauszufinden!«
Beklommen griff ich nach meinem Oberkleid und streifte es über. »Hast du es denn mehrmals versucht? Ich meine, zurückzukehren?«
»Was glaubst du wohl?«, fragte sie zurück.
Mir kam ein anderer Gedanke. »Angenommen, eines Tages klappt es doch noch – würdest du dann wieder auf den Karren zurückversetzt? Im selben Alter wie damals? Und … ähm, auf dem Weg zum Schafott?«
»Ich bete, dass das nicht geschieht.«
»Weswegen wurdest du überhaupt zum Tode verurteilt?«, fragte ich.
»Weil ich von Adel bin.« Clarissa hob ihr Kinn und sah plötzlich trotz ihrer schlichten Aufmachung aristokratisch aus. »Ich bin die Comtesse Clarisse de Saint Perdu, eine Cousine dritten Grades vom armen Dauphin.« Sie hielt inne. »Ich kann all das sagen«, meinte sie dann mit glücklichem Lächeln. »Sogar meinen richtigen Namen! Ach, wie froh bin ich, dich bei mir zu haben!«
Ich überlegte, ob sie mit Hoheit oder dergleichen angesprochen werden musste, aber nachdem wir im selben Bett geschlafen hatten, wäre mir das dämlich vorgekommen.
»Wer ist der Dauphin?«, fragte ich stattdessen.
»Der Sohn des Königs, den man trotz seines kindlichen Alters eingekerkert hat. Eigentlich ist er der König, nun, da sein Vater so grausam ermordet wurde. Ich sah zu und weinte ohne Unterlass.«
Richtig, Marie Antoinettes Mann war ja ebenfalls geköpft worden. Ich schluckte. Die arme Clarissa, sie hatte Ströme von Blut fließen sehen und war um ein Haar selbst Opfer der Guillotine geworden!
»Wenn ich dir vor meiner Abreise noch irgendwie helfen
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