Zeitfinsternis
her.“
Guy mußte zugeben, daß dies von der Wahrheit nicht weit entfernt war, behielt aber seine Überlegung für sich. „In welche Richtung sind sie denn geritten?“
„Nach Verdun, wohin sonst?“
„Wohin sonst“, pflichtete der Saarländer bei und fragte sich, wo das wohl sein mochte. Wahrscheinlich lag Verdun in der Richtung, die er selbst auch eingeschlagen hatte; wenn durch dieses Dorf zwei Reiter gekommen waren, dann mußte die Hauptstadt Lothringens wohl auch in dieser Richtung liegen.
Er kletterte in den Sattel – wie lange würde es wohl dauern, bis er den ebenfalls eintauschen mußte? – und freute sich, daß er die richtige Straße gefunden hatte. Nach dem, was er von der Geschichte gehört hatte, mußte das Mädchen ein paar Tage vor der Schlacht aus Blancz entführt worden sein. Was hatte sie in der Zwischenzeit gemacht? Es fiel ihm ein, was der Bürgermeister des Dorfs ihm erzählt hatte, und da glaubte er, auf der richtigen Fährte zu sein.
Hatte der Hufschmied sie wirklich gesehen? Sie konnte nicht die einzige Frau mit roten Haaren sein. Und – angenommen, sie war es tatsächlich – wer war der Reiter, der sie begleitete? Sie waren in Richtung Verdun geritten. Was wollten sie dort? Und – der Gedanke kam ihm plötzlich – was war, wenn sie nicht mit ihm zurückkommen wollte…?
Erst einmal mußte er sie finden, aber es wurde ihm klar, daß dieser Auftrag weit mehr Schwierigkeiten mit sich brachte, als er ursprünglich angenommen hatte.
„Wo hast du denn das Mädchen her?“ fragte Raul. „Deine Beute aus der Schlacht, was?“
„Mädchen?“ sagte Perier gedankenabwesend. „Ach so. Ja.“
„Ja was?“
Perier nahm das Stichwort auf. „Was“, sagte er, „ist mit ihr passiert?“
Der zweite Lothringer seufzte laut; er wußte, daß er von seinem Freund keine Antwort bekommen würde. „Meiner Ansicht nach bist du deshalb ins Verlies geworfen worden. Napoleon wollte sie für sich haben.“
„Dieser rotznäsige Pisser?“
„Nicht so laut. Aber du hast vollkommen recht. Ihre Gefühle entsprachen offensichtlich denen Napoleons. Seit er sie in sein Schlafzimmer geholt hat, ist sie nicht mehr gesehen worden, und jetzt ist er äußerst wütend, weil sie verschwunden ist.“ Raul stieß Marcel am Ellenbogen an und goß dabei einen Teil seines Bieres über sein Hemd. Keiner der beiden schien das zu bemerken. „Kein Wunder, was?“
Perier zuckte die Achseln. „So etwas Besonderes ist sie nun auch wieder nicht.“
„Nein?“
„Nein.“
„Dann bist du wahrscheinlich der einzige, der so denkt. In der Stadt ist jemand, der nach ihr gefragt hat, und er ist kein Lothringer.“
Perier setzte seinen Krug ab und sah den anderen Hauptmann an. „Hat er nach ihr gesucht?“
Raul nickte.
„Wie sieht er denn aus?“ Vielleicht konnte er ihn nach dem Mädchen fragen. Vieles war ihm ein Rätsel. Warum fehlte in seinem Gedächtnis so viel? Wie kam es, daß er bei der Schlacht nicht mitgekämpft hatte?
„Jung, und er kommt aus dem Saarland. Sie muß ihm eine Menge bedeuten, wenn er das Risiko auf sich nimmt und hierherkommt.“
„Ja.“ Raul trank seinen Krug leer. „Vielleicht hat er ja auch einen anderen Grund dafür, daß er hierhergekommen ist, aber welcher das sein könnte, das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ich schon“, sagte Perier.
„Welcher denn?“
Der andere Mann sagte jedoch nichts mehr. Er überlegte sich, warum jemand den ganzen Weg vom Saarland hierher auf sich nehmen sollte, nachdem die gesamte Saararmee und die der Lothringer vernichtet worden war. Oder beinahe zumindest. Auf ihrer Seite gab es einen Überlebenden: ihn selbst. Perier war davon überzeugt, daß der Fremde nach Verdun gekommen war, um diesen Fehler auszubügeln.
Nachdem meine Schicht zu Ende war, ging ich zum Archiv. Ich war
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