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Zeitfinsternis

Zeitfinsternis

Titel: Zeitfinsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David S. Garnett
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un­be­stimm­ba­rer Far­be. Hüf­ten, Bei­ne, Brüs­te: Die Klei­der schie­nen sich an je­de ih­rer Kur­ven an­zu­schmie­gen. Die­se nor­ma­ler­wei­se eher lang­wei­li­ge Klei­dung wur­de durch ih­re Fi­gur zu ei­nem auf­re­gen­den Er­eig­nis. Lan­ges ro­tes Haar, nack­te Fü­ße, ein un­glaub­lich hüb­sches Ge­sicht. Ei­ne be­mer­kens­wer­te Kom­bi­na­ti­on phy­si­scher At­trak­tio­nen.
    „Sehr at­trak­tiv“, kom­men­tier­te ich. „Und das ist sie?“
    „Das muß sie sein“, sag­te Ray­mond. „Ich weiß aber im­mer noch nicht, wer sie ist.“
    „Warum nicht? Sie ist doch da, oder nicht?“
    „Sie ist kei­ne von den Dorf­be­woh­nern. Vor ein paar Wo­chen ist sie auf ein­mal auf­ge­taucht, und ein paar Ta­ge spä­ter ist sie von Sol­da­ten aus Loth­rin­gen ent­führt wor­den.“
    „Wer ist sie al­so?“
    „Nie­mand. Über sie exis­tiert in ganz Eu­ro­pa nir­gends auch nur die ge­rings­te Auf­zeich­nung. Nie­mand, auf den ih­re Be­schrei­bung paßt, ist nicht da, wo er sein soll­te.“
    „Sind Sie da si­cher?“
    „Ja.“
    „Ab­so­lut?“
    „Hun­dert­pro­zen­tig.“
    Ich run­zel­te die Stirn. „Das kann nicht sein. Was hat das zu be­deu­ten?“
    „Das be­deu­tet“, sag­te Ray­mond, „daß es die­se Per­son nicht gibt. Sie exis­tiert nicht.“
    Viel­leicht täuscht er sich – und die­se Mög­lich­keit über­rascht ihn we­der, noch är­gert sie ihn –, aber es scheint so, als sei sein Geist viel frei­er als frü­her. Er ist in der La­ge, mehr als ein paar Se­kun­den hin­ter­ein­an­der nach­zu­den­ken, und sei­ne Ge­dan­ken ent­glei­ten und ent­kom­men ihm nicht mehr ganz so oft wie frü­her. Wie: Schreib es auf.
    Und je mehr er dar­über nach­denkt, de­sto mehr Angst macht es ihm. Er wird ver­mut­lich noch in ei­nem weitaus grö­ße­ren Maß be­nutzt, als er das vor­her an­ge­nom­men hat­te: um die Zu­kunft zu ver­än­dern.
    Wenn sein Geist frei­er ist, trifft das auch für sei­nen Kör­per zu? M ASCHI­NE zu­fol­ge wird er nun schon bald die Frau von der Ober­flä­che se­hen. Per­sön­lich se­hen. Ist das wahr? Oder lügt M ASCHI­NE ihn wie­der an?
    Mög­li­cher­wei­se lügt M ASCHI­NE ja nicht, und es ist nur sein ei­ge­ner Geist, der ihm Strei­che spielt. Es gibt so vie­le Mög­lich­kei­ten; so vie­les ist zu be­zwei­feln. Nicht für M ASCHI­NE , nur für ihn.
     
     
    Als ich nach Hau­se kam, war Son­ya nicht da; sie hat­te ih­re Schicht an­ders ge­legt, da­mit wir un­se­re dienst­freie Zeit nicht zu­sam­men ver­brin­gen brauch­ten, was sehr rück­sichts­voll von ihr war. Ich wuß­te nicht, was sie ge­tan hat­te, um mich hei­ra­ten zu müs­sen; für mich aber war es ein Teil des Ein­ge­wöh­nungs­pro­zes­ses, et­was, was ich tun muß­te, als ich wie­der un­ten wohn­te. Viel­leicht soll­te das die Be­ob­ach­ter zu­frie­den­stel­len, wenn sie ei­ne Ge­fähr­tin be­ka­men. Für mich hat das so nicht ge­klappt. Für sie auch nicht. Ich er­in­ne­re mich so­gar, daß ich da­mals ge­dacht ha­be, daß viel­leicht das Ge­gen­teil bezweckt wird und Rei­be­rei­en, Un­zu­frie­den­heit und De­ser­ti­on be­wirkt wer­den sol­len.
    Na ja, wie auch im­mer. Ich starr­te an die De­cke und dach­te dar­über nach, was Ray­mond mir ge­sagt hat­te: Das Mäd­chen, das Ers­ter woll­te, exis­tier­te nicht. Kein Wun­der, daß er sich so sehr Ge­dan­ken ge­macht hat­te; er hat­te je­man­den ge­fun­den, der kei­nen Na­men hat­te, einen Men­schen, des­sen Le­bens­ge­schich­te nicht in den Ak­ten stand. Er hat­te das, was er ge­sagt hat­te, ernst ge­meint, und ich wuß­te, daß es kei­nen Feh­ler ge­ben konn­te.
    Aber es gab noch an­de­re oh­ne An­ga­ben – die Ge­sichts­lo­sen, die au­ßer­halb des ,Sys­tems’ ge­bo­ren wur­den, Kin­der von Re­ne­ga­ten, die ent­we­der an die Ober­flä­che ge­flo­hen wa­ren oder an an­de­ren Stel­len in den Tun­nels leb­ten. Es hät­te aber nach Hoch­ver­rat ge­klun­gen, wenn ich sie er­wähnt hät­te; au­ßer­dem wuß­te Ray­mond über sie ge­nau­so wie ich Be­scheid. Und was war mit Flan­dern – dem Land, das von ein paar Re­bel­len über­nom­men wor­den war und von ih­nen so ver­wal­tet wur­de, daß sie dort je­de ih­rer Lau­nen

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