Zeitfinsternis
Flächen mit den Platzangst einflößenden Ruinen zu vergleichen, aus denen Verdun bestand. Er wußte zwar sofort, daß die Reiter hinter ihm her waren, verschnellerte aber seine bequeme Gangart nicht. Er war müde, und Gilbert war müde. Guy wußte genau, daß das Pferd niemals in Betracht ziehen würde, eine schnellere Gangart einzulegen, selbst wenn er es noch so eindringlich darum bitten würde.
Sie waren wegen der Ereignisse in der Kneipe hinter ihm her: Wegen des Todes des Soldaten und nicht, weil er geflohen war, ohne seine Rechnung zu bezahlen. Er ritt nicht schneller, aber auch nicht langsamer. Er überließ es seinem Pferd, das Tempo zu bestimmen. Wäre es vielleicht denkbar, daß sie ihn gar nicht verfolgten, sondern an ihm vorbei weiterreiten würden? Er wußte, daß dies eine vergebliche Hoffnung war.
Konnte er ihnen vielleicht erklären, daß es nur ein Unglücksfall gewesen war? Der Mann war ausgerutscht und in ein offenes Messer gefallen. Die Geschichte hörte sich selbst für Sir Guy unwahrscheinlich an. Aber so war es doch passiert, oder nicht? Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. Es war so, als versuchte er, eine verschwommene Gestalt in einem dichten Nebel auszumachen. Angenommen, Sie würden seine Version glauben – falls sie ihn überhaupt zu Wort kommen und nicht sofort umbringen würden – wie sollte er seine Flucht erklären? Bewies das nicht seine Schuld? Dutzende von Ideen, Überlegungen und Plänen zuckten durch das Gehirn des Saarländers. Nichts davon half ihm nur im geringsten. Und die ganze Zeit galoppierten die Reiter näher auf ihn zu. Er konnte erkennen, daß es fünf waren: Ihre Umhänge wehten hinter ihnen her, und sie wirbelten Staubwolken auf, die sich erst lange, nachdem sie vorbeigerittten waren, wieder setzten.
Sollte er sich überhaupt nicht um sie kümmern und so tun, als hätte er sie nicht gesehen?
Konnte er wenigstens versuchen zu fliehen?
Wäre es am besten, wenn er sein Schwert ziehen und sich verteidigen würde?
Sir Guy zog an den Zügeln, und allmählich trabte Gilbert immer langsamer und blieb dann stehen. Schwerfällig reagierte er auf die Tritte seines Herrn und drehte sich herum. Hand am Schwertgriff. Trockene Lippen. Nasse Achselhöhlen. Versuche, einen lässigen Eindruck zu erwecken. Gleich würde er sich in die Hosen machen. Er beobachtete die Reiter, die immer näher kamen. Als sie sahen, daß er angehalten hatte, wurden sie etwas langsamer. Sie waren inzwischen nahe genug, daß der Ritter ihre Gesichter selbst in der Dämmerung erkennen konnte: grimmig, militärisch, gnadenlos. Guy befeuchtete seine Lippen, so gut es ging, um sich darauf vorzubereiten, sie anzurufen. Bevor er dazu kam, geschah es.
Eben noch trennten ihn nur ein paar Pferdelängen von den rachedurstigen Lothringern. Im nächsten Moment war er da, zwischen dem Ritter und seinen Verfolgern. Fast versperrte er die Sicht auf sie.
Der Drache.
Das war kein eingebildeter Drache aus den Märchen, von dem die Eltern ihren Kindern erzählen, sondern dieser hier war echt. Riesig groß war er, mit vier dicken Beinen, die seinen massiven grauen Leib trugen. Er hatte zwei lange, weiße Zähne, die von seinem Maul fast bis zum Boden reichten, und dazwischen ein schlangenförmiges Etwas, das aus dem entsetzlichen Gesicht des Ungeheuers wuchs.
Mit starren Augen verfolgte Sir Guy die Bewegungen des Drachen, dessen riesiger Kopf zuerst zu ihm, dann aber zu den fünf Reitern hinsah. Schließlich wandte er sich von ihm ganz ab, drehte sich um und setzte sich – zunächst langsam, dann mit wachsender Geschwindigkeit – gegen die Lothringer in Bewegung. Die Soldaten folgten dem Beispiel des Ungeheuers: Sie drehten
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