Zeitgenossen - Kampf gegen die Sybarites (Bd. 2) (German Edition)
über der Mauer verschwunden und in verschiedene Himmelsrichtungen davongerannt. Damit hatten wir die untoten Wächter abgehängt. Die Kraft, über die Mauer zu springen, hatten sie zwar auch, aber sie besaßen nicht unsere Schnelligkeit.
Auf dem Weg nach Mont Saint-Michel stießen wir wieder auf Francisco mit unserem geretteten Gefangenen. Der Mont Saint-Michel war eine kleine Felseninsel direkt vor der Küste an der Mündung des Flusses Couesnon kurz vor der Grenze zu Bretagne. Der imposante kleine Felsen der Insel mit dem malerischen normannischen Kloster darauf war schon von weitem auszumachen und bot selbst nachts einen beeindruckenden Anblick. 1469 wurde die Abtei als Sitz des neu gegründeten Ritterordens Ordre de Saint-Michel ausgewählt, allerdings war sie den Ordensmitgliedern zu abgelegen, so dass dort keine einzige Ordensversammlung stattfand. Daher schien uns das Kloster der geeignete Ort, um Radissets Gefangenen hier zu verstecken.
Wir setzen mit einem kleinen Ruderboot zur Insel über und brachten unseren mysteriösen Schützling in einer geräumigen und behaglichen Kammer des Klosters unter. Der Abt war ein guter Freund von Félice und versprach uns, über seinen Gast absolutes Stillschweigen zu bewahren. Maddy und Miguel hatten auf dem Weg hierher ein Reh erlegt, welches sie dem zweiten Radisset anboten, um seinen Durst zu löschen. Dass er nach wie vor kein Menschenblut bekam, gefiel ihm nicht sonderlich, er akzeptierte allerdings unser Argument, dass dies wohl bei den Mönchen für zu viel Aufsehen sorgen würde und es besser sei, sich möglichst unauffällig zu verhalten.
Nachdem der Comte seinen Durst gelöscht hatte und von uns mit frischer Kleidung versorgt worden war, setzte er sich aufrecht hin und wandte seinen blinden Blick in unsere Richtung.
»Meine Freunde«, begann er mit klarer Stimme, »ich weiß zwar nicht, wer Ihr seid, aber ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich kann Euch für meine Rettung nicht viel bieten, außer vielleicht meine Geschichte, und wenn mich nicht alles täuscht, seid Ihr nicht völlig uninteressiert daran, diese Geschichte zu erfahren?«
Wir wechselten einen kurzen Blick, dann antwortete Giles ihm. »Monsieur, Ihr schätzt die Situation durchaus richtig ein. Wir sind sehr daran interessiert, Eure Geschichte zu erfahren, zumal es uns erstaunt hat, dass Ihr Euch als Comte de Radisset vorgestellt habt. Wir nahmen an, der Mann, der Euch gefangen hielt, sei der Comte de Radisset.«
»Nun, das ist er auch«, antwortete der Blinde mit einem bitteren Lächeln. »Er ist mein Sohn.«
Erneut wechselten wir in dieser Nacht einen verblüfften Blick.
»Allerdings ist er nicht mein leiblicher Sohn«, fuhr Radisset Senior fort, »ich habe ihn nur adoptiert. Sein leiblicher Vater ist der Duc de Longueville.«
Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein überraschter Laut entfuhr.
Der Comte wandte den Kopf in meine Richtung. »Ich sehe, dass Euch dieser Name nicht unbekannt ist«, stellte er fest, »Longueville ist ein sehr guter alter Freund von mir. Und obwohl ich in Eurer Schuld stehe, werdet Ihr einsehen, dass ich zunächst wissen muss, wie Ihr zu ihm steht, bevor ich Euch meine ganze Geschichte erzählen kann.«
Da wir nicht gewusst hatten, was uns in jenem Verlies im Château de Caen erwarten würde, hatten wir uns im Vorfeld für alle Fälle eine kleine Geschichte zurechtgelegt, mittels derer es mir nunmehr gelang, die Bedenken des Comte zu zerstreuen. »Wir alle sind Mitglieder der Sybarites de Sang«, antwortete ich daher, »und wir bewundern die Art und Weise, wie Longueville unsere Gemeinschaft leitet und anführt. Jedoch hatten wir seit einiger Zeit den Eindruck, dass Radisset, also Euer Sohn, dem Duc möglicherweise nicht mehr so ergeben ist, wie er es sein sollte. Wir fragten uns, ob er womöglich sogar etwas gegen ihn im Schilde führt. Also beobachteten wir Radisset. Und stießen so auf Euch.«
Radisset Senior ließ eine Weile lang schweigend seinen blinden Blick auf mir ruhen. Unbehaglich sah ich in sein hageres Gesicht mit den milchig-trüben Augen und fragte mich, ob er meine Lüge nicht eventuell durchschaute.
Doch dann lächelte er mich traurig an. »Wenn es damals so aufmerksame Mitglieder wie Euch gegeben hätte, hätte ich vielleicht gar nicht erst in diesem stinkenden Verlies landen müssen«, sagte er.
Und dann erzählte er uns seine Geschichte. »Wie ich bereits erwähnte, sind Valentin Doray, also der Duc de Longueville und ich
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