Zeitreisende sterben nie
spielte mit seinem Glas. Es war kostbar, geschliffenes Kristallglas, und er erkundete die Facetten. »Wann ist die Testamentseröffnung?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie schon stattgefunden.«
»Ich bin in Versuchung hinzugehen.«
»Zur Testamentseröffnung?«
»Warum nicht?« Er rang sich ein angespanntes, gequältes Lächeln ab. »Ich könnte mir einen schwarzen Bart ankleben und mich im passenden Moment zu erkennen geben.«
»Das kannst du nicht machen.«
Shel lachte. »Ich weiß. Aber bei Gott, ich würde gern.« Er schüttelte sich, als wäre er gerade erwacht. »Dave, die Wahrheit ist, dass ich weiß, ich werde sterben. Das ist etwas anderes, als bloß zu wissen, dass man nicht ewig leben kann.«
Dave sagte nichts.
»Aber es muss nicht so weit kommen, solange ich noch nicht dazu bereit bin.« An Dave vorbei blickte er zum Fenster hinaus.
»Ich denke, du solltest es ihr sagen«, sagte Dave sanft.
Seine Miene umwölkte sich. »Ich weiß.« Er quälte sich die Worte über die Lippen. »Ich werde mit ihr reden. Zu geeigneter Zeit.«
»Sei vorsichtig«, sagte Dave. »Sie hat schon so viel durchgemacht.«
»Ja.«
»Alles in Ordnung?«
Er nickte. Dave dachte, er würde noch etwas sagen, vielleicht, für einen Toten geht 's mir ganz gut, aber er tat es nicht.
Kapitel 36
Er ist fort, verschwunden, abgehauen, davongerannt.
Cicero
Die Kernfrage war, ob sie tatsächlich Adrian Shelborne bestattet hatten oder ob womöglich doch eine Verwechslung vorlag. Weder Dave noch Shel wussten mehr über die Vorgehensweise der Polizei, als im Fernsehen zu erfahren war. Also machte sich Dave am nächsten Morgen auf, der Sache auf den Grund zu gehen.
Bei Jerry, der anscheinend wütend war, dass Shel gestorben war, beinahe, als wäre sein toter Bruder irgendwie selbst daran schuld, fing er an. »Ich sollte nichts Schlechtes über einen Toten sagen«, erzählte er Dave. »Er war ein anständiger Kerl, aber er hat im Grunde nichts aus seinem Leben gemacht.« Es war beinahe ein Echo dessen, was Shel selbst gesagt hatte, aber die Bedeutung war eine andere. Jerry ging es um berufliche Leistungen und die zugehörige Entlohnung. Er saß hinter einem Schreibtisch aus poliertem Teakholz. Ein Gummibaum in einem großen Pflanzkübel stand nahe einem sonnengefluteten Fenster. Das Mobiliar war kostspielig, die Polster mit Leder bezogen, schwer und solide. Das ganze Büro vermittelte den Eindruck, dass, wer immer hineinging, bedeutend war.
Urkunden bedeckten die Wände; Würdigungen, verliehen von Vertretern der Öffentlichkeit, Auszeichnungen von Unternehmerseite, diverse Diplome und Zeugnisse. Fotos seiner beiden Kinder, so positioniert, dass sie gleich ins Auge sprangen; ein Junge in Litde League-Montur, ein Mädchen, das ein Pferd streichelte. Seine Frau, die ihn vor Jahren verlassen hatte, war nicht vertreten.
»Eigentlich«, sagte Dave, »fand ich, er hat sich recht gut geschlagen.«
»Ich rede nicht von Geld, Dave. Ich bin nur der Ansicht, dass wir, als Teil einer Gemeinde, gewisse Verpflichtungen haben. Die Beteiligung an öffentlichen Aufgaben. Unterstützung der Gemeinde. Eine Mitgliedschaft, sagen wir bei Optimist International. Die Förderung einer Kirche.«
»Ich habe eine Frage«, sagte Dave.
»Nur zu.«
»Wie sorgfältig prüft die Polizei in solchen Fällen die Identität des Opfers? Ich meine, es war Shels Haus, und nur ein Mensch war drin. Ich habe mich gefragt, ob sie überprüft haben, wer sonst noch als Opfer infrage käme. Oder ob sie sich die Mühe einfach gespart haben.«
Jerry schüttelte den Kopf. »Die Polizei ist bei so etwas normalerweise ziemlich gründlich, Dave. Strafrecht ist nicht mein Spezialgebiet, aber sie wären ja verrückt, würden sie sich in so einer Situation mit bloßen Vermutungen begnügen. Damit würden sie sich enorm angreifbar machen. Genau darum überprüfen sie die zahnärztlichen Unterlagen.«
»Sie sagen, dass sie das tun. Aber ist es auch möglich, dass sie sich diesen Aufwand erspart haben? Weil sie so oder so sicher waren?«
»Nein. Glaub mir, das ist kein großer Aufwand. Und das Risiko, verklagt zu werden, ganz zu schweigen davon, welchen Eindruck dergleichen auf die Öffentlichkeit machen würde, werden sie nicht eingehen. Wenn sie sagen, es war Shel, kannst du davon ausgehen, dass er es war.«
»Schade.«
Er zuckte mit den Schultern. »So ist das Leben. « Jerry stand auf, ein deutliches Zeichen, dass er das Gespräch für beendet hielt.
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