Zeitreisende sterben nie
Tür. »Weißt du«, sagte Dave, »das hat etwas von einem Deja-vu.«
Jerry, die Hand am Türknauf, stutzte. »Wie meinst du das?«
»Als ich in Princeton promoviert habe, gab es dort einen Sprachdozenten, dem das Gleiche passiert ist. Er hat allein gelebt, und eines Tages ist eine Gasleitung geplatzt und sein Haus ist in die Luft geflogen. Sie haben ihn beerdigt. Und dann haben sie festgestellt, dass er gar nicht tot war. Er war überraschend nach Vermont gefahren und hatte sein Haus einem Freund überlassen, aber das haben sie erst mehrere Tage nach der Beisetzung herausgefunden.«
Jerry zuckte mit den Schultern. Die kolossale Dummheit auf Erden war für ihn nicht überraschend.
»Bedauerlicherweise«, sagte er, »ist kaum eine Chance gegeben, dass es sich hier auch so verhält.«
Vermutlich hätte Dave gut daran getan, nicht nach Helen zu sehen, da er selbst noch einem emotionalen Tumult ausgesetzt war. Aber er rief sie von einem Drugstore aus an, und sie sagte ja, sie würde ihn gern treffen, und schlug vor, gemeinsam zu Mittag zu essen. Sie trafen sich im Applebee's an der City Avenue.
Sie sah erschöpft aus, benommen, und ihre Augen waren blutunterlaufen.
Nie in seinem Leben hatte er etwas als so quälend empfunden, wie an diesem Tag mit ihr dazusitzen, ihren Kummer so klar zu sehen und zu wissen, dass, wäre Dave derjenige, der gestorben war, sie zwar ebenfalls traurig gewesen wäre, aber doch bald darüber hinweggekommen wäre.
Das Gespräch war von Bedauern geprägt. All die Dinge, die ungesagt oder ungetan geblieben waren. Sie war so zart und verwundbar, wie Dave sie noch nie erlebt hatte. Nach allen Naturgesetzen war Shel tot. Musste er dann immer noch Distanz wahren? Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wüsste sie, dass Shel in diesem Moment vermutlich in Daves Küche stand und sich ein Baguette zubereitete.
Er wollte es ihr erzählen. Es war denkbar, dass sie, wenn sie es irgendwann herausfände, auch auf Dave wütend wäre, hatte sie den Ärger über Shel erst überwunden. Außerdem, Gott helfe ihm, wollte er Shel in seinem Grab lassen. Das einzugestehen fiel ihm schwer, aber es war die Wahrheit. Er wollte nichts so sehr wie freien Zugang zu Helen Suchenko. Aber als er sah, wie sie ihren Schmerz zu unterdrücken suchte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, wie sie sich mit zitternder Stimme entschuldigte und eilends in der Damentoilette verschwand, da hielt er es nicht länger aus. »Helen«, sagte er, »hast du heute Nachmittag Zeit?«
Sie seufzte. »Das ist mein freier Nachmittag. Schadet nicht. Die Leute werden in Gegenwart verheulter Ärzte ziemlich nervös. Aber ich bin nicht in Stimmung, irgendwohin zu gehen.«
»Kann ich dich überreden, mich in meinem Haus zu besuchen?«
Sie sah entsetzlich zerbrechlich aus. »Ich glaube nicht, Dave. Ich brauche Zeit für mich allein.«
Er lauschte dem Brummein der Gespräche um sie herum. »Bitte«, sagte er. »Es ist wichtig.«
Grau hing der Himmel über den Straßen, und sämtliche Fahrzeuge fuhren mit brennenden Scheinwerfern. Helen folgte ihm in ihrem kleinen blauen Ford. Er sah sie im Spiegel, während er im Geist alle möglichen Szenarien durchspielte, um festzulegen, wie er vorgehen sollte. Er ist nicht tot, Helen. Vergiss die Zeitreisen, beschloss er.
Zumindest vorerst. Er konnte die Geschichte, die erJerry als Beispiel für das Entstehen möglicher Irrtümer erzählt hatte, benutzen. Und ihn dann ins Zimmer rufen. Besser, er verzichtete darauf, ihn zu warnen. Nur Gott wusste, wie er reagieren würde. Aber bring sie zusammen, stell sie vor vollendete Tatsachen, dann hast du deine selbstaufopfernde Pflicht getan, Dave. Du blöder Idiot.
Er fuhr in die Einfahrt, öffnete die Garage und rollte hinein. Der Regen war stärker geworden. Helen hielt hinter ihm und hastete aus dem Wagen. »Hier entlang«, sagte Dave und winkte sie in die Garage.
»Ich bin froh, dass die Fahrerei vorbei ist«, sagte sie mit einem tränenerstickten Lächeln. »Ich kann nicht lange bleiben, Dave.«
»In Ordnung. Es dauert nur eine Minute.«
Von der Garage führte eine Tür in die Küche. Er schloss die Tür auf, lauschte aber erst, ehe er hineinging. Drinnen war alles still. Er trat zur Seite, um sie einzulassen, und schloss die Tür hinter ihr, ohne sich darum zu bemühen, sie leise ins Schloss zu ziehen. Dann schaltete er das Licht in der Küche ein und führte sie ins Wohnzimmer. »Wegen Shel«, setzte er mit etwas lauterer Stimme
Weitere Kostenlose Bücher