Zeitriss: Thriller (German Edition)
Zeit, wenn sie ihre erotischen Listen weiter anwandte, würde sie die Geheimnisse seiner Vergangenheit aufdecken und seine wahren Motive enthüllen.
Nicht eine Sekunde lang schloss sie aus, dass er auch ein Spion der Briten sein könnte. Doch mit dem fortschreitenden Zusammenspiel fand sie es immer unwahrscheinlicher, dass Lord Elgin Gewalt über den Blauäugigen hatte. Der war ein gut aussehender Mann, ein ausgebildeter Kämpfer und ein begabter Taktiker. Und er schien Skrupel zu haben – wenn sie auch gebrochen werden konnten durch ihr erotisches Entgegenkommen. Wenn sie dazu noch seine erstaunliche Kenntnis der Zukunft betrachtete, war es noch unwahrscheinlicher, dass der hochmütige, dumme Lord Elgin die Fähigkeit oder Gerissenheit haben sollte, ihn zu lenken.
Sich selbst dagegen gestand sie das Talent zu, dieses schöne, gefährliche Geschöpf für ihre eigenen Ziele einzuspannen. Sie hatte die Macht der Frau auf ihrer Seite – und die war wirksamer als vieles andere. Cixi war der lebende Beweis dafür, eine Konkubine, die sich zur einflussreichsten Frau der Welt entwickelt hatte.
Und doch ermahnte sie sich, nicht zu selbstsicher zu handeln. Sie sollte auf Verrat vorbereitet sein, wie immer, und sich absichern, wo es möglich war, für den Fall, dass die Dinge nicht waren, wie sie schienen.
Auf ihrem Weg zur Halle der Friedvollen Langlebigkeit überquerte sie den gewundenen Graben auf der mittleren Brücke. Die gekrümmte Brücke war aus weißem Marmor gebaut, und zwei Einhornköpfe bildeten die dicken Pfeiler an den Enden. Cixi hatte es nicht eilig. Sie nahm sich einen Moment Zeit und blieb auf dem höchsten Punkt der Brücke stehen, um ihr Spiegelbild auf dem Wasser zu betrachten. Um elf Uhr wollte sie Prinz Kung treffen, und wie immer war sie frühzeitig unterwegs. Zeit zum Nachdenken war wichtig, wenn sie unter Druck stand. Darin versagten die meisten, wenn unter ihnen das Feuer angefacht wurde. In ihrem hastigen Bemühen, die Lage zu verbessern, versäumten sie das Nachdenken.
Der Westliche Palast war für die Eunuchen wieder geöffnet worden, damit sie darin ihren Pflichten nachgehen konnten. Cixi hatte Randall eingeschärft, mit niemandem zu sprechen, damit ihn seine tiefe Stimme nicht verraten konnte. Ihm war der Zugang zu fast jedem Bereich gestattet, außer zu den drei Hallen der Harmonie, den höchstrangigen Gebäuden der Verbotenen Stadt. Seine Anwesenheit könnte ungewollte Aufmerksamkeit erregen, da Palastwachen nur ganz selten dort anzutreffen waren. Sie hatte ihm auch das entsprechende Kurzschwert gegeben, das er am Rücken tragen sollte. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihm die Waffe zu geben, doch sie hielt ihn auch ohne Schwert für einen tödlichen Kämpfer. Das Risiko hatte sich also nicht wesentlich vergrößert.
Als sie den Garten Friedvoller Langlebigkeit betrat, wurde ihr Blick von dem schimmernden See angezogen, der zwischen den Bäumen und Herbstblumen hindurch zu sehen war. Er lockte ein Lächeln auf ihre Lippen. Jedes Jahr am Neujahrstag bewirtete der Kaiser die Adligen, Minister und Konkubinen in diesem Garten, wie der mächtige Qianlong es bestimmt hatte. Hunderte Schalen wurden mit Wein gefüllt und aufs Wasser gesetzt. Wenn die treibende Schale vor einem Halt machte, war man aufgefordert, daraus zu trinken und dann ein Gedicht aufzusagen. Bei einem dieser Feste war der Sohn des Himmels zum ersten Mal auf sie aufmerksam geworden. Ihr Gedicht war so schön gewesen – ein Qing-Klassiker – und ihr Vortrag so leidenschaftlich, dass sie alle Zuhörer sprachlos machte.
Ihr Gedankengang wurde unterbrochen, als Prinz Kung aus der großen Halle kam. Sein Gesicht war blass vor Angst, sein Drachengewand flatterte bei seinen eiligen Schritten. »Ist die Nachricht vom Angriff der roten Teufel schon zu Euch gedrungen, Edle Kaiserliche Gemahlin?«
Cixi verzog keine Miene. »Ja, ich hörte davon.«
»Wir müssen schleunigst fliehen!«, drängte der Prinz.
»Wir gehen nirgendwohin«, widersprach sie resolut. »Ihr müsst das einsehen: Wenn wir fliehen, werden die roten Teufel einmarschieren und die Leere füllen, die wir hinterlassen. Das Reich ist dann verloren. Aber habt keine Angst, mein Bruder. Ich habe einen Plan, der den barbarischen Angriff lange genug hinauszögert, dass wir die verbliebenen Gefangenen bei guter Gesundheit zurückgeben können.«
»Aber das sollten wir nicht tun!«, riet Prinz Kung heftig. »Ihre Gefangenschaft ist das Einzige, was die
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