Zeitriss: Thriller (German Edition)
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Unternehmen Esra – Tag 207
Das große Feuer war bis auf die Glut heruntergebrannt. Daher war es in dem großen Saal recht kalt. Während der langen Nachtstunden kühlte die Luft bereits beträchtlich ab.
Sowie Randall wach wurde, quälten ihn Schuldgefühle. Erschrocken richtete er sich auf und spähte durch den leeren Raum. Dann sah er auf das zerknitterte Laken, wo Cixi gelegen hatte.
Seltsam, dass ihn Angst durchfuhr, als er sah, dass er allein war. Er dachte sofort daran, was er getan hatte. Ihm war so eng in der Brust, dass er kaum atmen konnte. Er hatte fast gegen alle Regeln verstoßen, die er mit Wilson zusammen aufgestellt hatte. Die Erinnerung an den Abend war wie ein schlechter Traum, was ihn betraf, ein totales Versagen, und kurz betete er, er möge erwachen und feststellen, dass seine Torheiten nicht Wirklichkeit waren. Aber natürlich war ihm klar, dass er mit seinen Verstößen würde leben müssen.
Als er die Decke zurückschlug, spürte er die schneidende Kälte auf der nackten Haut. Dann roch er den Duft von Cixis Säften, der mit seiner Körperwärme aufstieg. Sein Albtraum war mit verlockenden fleischlichen Genüssen gepolstert, und trotz seiner augenblicklichen Angst verlangte es ihn nach mehr. Während er seine Kleider in sämtlichen Ecken suchte, dämmerte ihm, dass Cixi sie mitgenommen haben musste. Stattdessen fand er eine grüne Uniform, wie sie die Eunuchen der Palastwache trugen. Da ihm einleuchtete, dass er sich tarnen musste, solange er sich in der Verbotenen Stadt aufhielt, zog er die weiten Baumwollhosen an und band sie an der Hüfte zu. Die Sandalen hatten an der Ferse zwei lange Schnüre aus schwarzem Segeltuch. Die schlang er sich um die Waden und verknotete sie unter dem Knie. Da lag auch ein weißes Unterhemd, das ihm kaum passte. Darüber zog er das grüne Baumwollhemd mit den weiten Ärmeln und dem Stehkragen. Die Knöpfe verliefen an der rechten Schulter entlang und die Seite hinab.
Nachdem er die schwarze Samtkappe aufgesetzt hatte, ging er auf die rote Tür des Palastes zu, und dabei kam ihm der Gedanke, dass er außer dem Kaiser der erste intakte Mann war, der hier eine Nacht verbracht hatte. Und er hatte mit der Gemahlin des Kaisers geschlafen. Dann korrigierte er sich: Er hatte sie mit Gewalt genommen.
Sowie er in den Hof trat, der an den Garten grenzte, ging er in zügigem Tempo auf das Rückgrat der Stadt zu, den Palast der Himmlischen Reinheit. Seine Chancen, Cixi dort zu finden, standen gut, da sie dort jeden Morgen meditierte.
Der Himmel war wolkenlos blau; auch die Nacht war klar und darum kalt gewesen. Im Garten hingen Nebelschwaden zwischen den Bäumen, die sich während der nächsten Stunde auflösen würden, sobald die Sonne über die hohen Mauern stieg und die Verbotene Stadt mit ihrem spätherbstlichen Glanz streifte.
Es tat gut, die frische Morgenluft in der Nase zu haben, und Randall lief auf die mittlere Tür zu, um sich dann vom Blumengarten weg nach Süden zu wenden. Ringsherum lagen unermessliche Schätze: massiv goldene Statuen flankierten die Tore, Tausende kostbarer Teppiche lagen in den Palästen, Hunderttausende Vasen schmückten Sockel und Bänke. Schnitzwerk aus Jade gab es tausendfach, manche Stücke zweihundert Pfund schwer, desgleichen kalligrafischen Wandschmuck. Und dann die Uhren – es gab so viele Uhren. Randall erinnerte sich, dass Kaiser Qianlong vom Messen der Zeit fasziniert gewesen war und darum diese Präzisionsinstrumente aus aller Welt gesammelt hatte.
Und es gab zahllose Dokumente – das Wissen aus viertausend Jahren chinesischer Geschichte lag in den Bibliotheken. Dies war in der Tat eine Stadt von sagenhaftem Reichtum, der in den zehntausend prachtvollsten Gebäuden der Welt untergebracht war.
Auf seinem Weg sah Randall keine Menschenseele, genau wie am Abend zuvor. Lautlos, dank der weichen Sohlen, sprang er die weißen Stufen des Palastes hinauf. Erleichtert sah er Cixi im Lotossitz mit dem Gesicht zur Sonne dasitzen. Sie hielt den Rücken gerade, die Augen geschlossen.
»Ihr hättet mir sagen sollen, dass Ihr mich allein lasst«, sagte Randall und glaubte, sie würde zusammenzucken.
Doch Cixi rührte keinen Muskel – ihre Augen blieben geschlossen, das Gesicht entspannt. »Eure Unverforenheit ist groß, wenn Ihr durch die Verbotene Stadt lauft, als wäre sie Euer Eigentum.«
»Ihr hättet mir sagen sollen, dass Ihr mich allein lasst«, wiederholte Randall.
»Ein Gefangener sagt seinem Wärter nicht, wann
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