Zeitriss: Thriller (German Edition)
Nachmittag gegen vier Uhr setzte ein sintflutartiger Regen ein, der den Zeltplatz gut zwei Stunden lang überschwemmte und in einen Sumpf verwandelte. Ein weiterer Tag war ohne nennenswerte Ergebnisse vergangen. Lord Elgins Geduld mit den zeremoniellen Gepflogenheiten der Mandarine erschöpfte sich allmählich. »Um weiterzukommen sind wir auf Tientsin nicht angewiesen!«, sagte er jedes Mal. »Die Qing nutzen die Zeit, um ein großes Heer zusammenzuziehen. Wir müssen eingreifen!«
Wahrscheinlich hatte er recht, doch Randall brachte ihn davon ab. Es wäre unklug, an Tientsin vorbeizuziehen, ohne die Formalitäten der Kapitulation abgeschlossen zu haben und vor allem ohne dort geeignete Truppen zu stationieren, die die Stadt im Falle eines Großangriffs halten könnten. Er fürchtete, Senggerinchin würde die Stadt wieder einnehmen und als Operationsbasis benutzen. Die Verbündeten, die gegen Peking marschierten, wären dann geschwächt, und der Mongole könnte ihnen den Nachschub an Nahrungsmitteln und Munition abschneiden.
Für Elgin war das eine frustrierende Zeit. Er saß in seiner Kabine auf der Grenada , trank Scotch und las Byron, während er darauf wartete, dass die Diplomaten ihre Aufgabe erledigten. Die Dichtung konnte ihn jedoch nicht beruhigen. Er wollte seine Truppen um Tientsin herumleiten und Tongzhou überrennen. Aber jeden Tag redete Randall ihm das aus.
»Es könnte eine Falle sein«, sagte er immer wieder. »Wir haben nicht genügend Leute, um unsere Nachschublinien zu halten, wenn Tientsin zurückerobert wird. Sie müssen meinem Urteil vertrauen.« Doch in Wirklichkeit war das nur eine Vermutung. Er wusste nicht im Mindesten, ob Senggerinchin es auf die Stadt abgesehen hatte.
Senggerinchins Feldlager
40 Kilometer nördlich von Tientsin, China
Der Mongolenprinz stand im Eingang seines Zeltes und blickte in den Regen hinaus. Der Nachmittagshimmel war dunkelgrau, und es regnete seit über einer Stunde. Die dicken Wolken, die über seinem Lager hingen, waren von kalten sibirischen Winden gegen die Yanshan-Berge getrieben worden. Dort gaben sie Millionen Liter Wasser ab, um höher steigen und weiterziehen zu können.
»Warum ziehen sie nicht an Tientsin vorbei?«, fragte er ärgerlich. Er drehte sich um und sah seine sechs Generäle herausfordernd an. »Sie warten schon zehn volle Tage, seit sie die Taku-Festungen eingenommen haben. Das ist sehr unbritisch.«
»Weil sie Feiglinge sind?«, schlug General Mu vor.
»Falsch! Dummkopf!«, schrie Senggerinchin. »Sie wissen, dass wir hinter den Bergen warten, um ihnen eine Falle zu stellen! Das ist der einzige Grund, weshalb sie sich so zurückhalten. Das Tor nach Peking steht offen. Die Stadt ist wie ein alleingelassenes Kind, auf das draußen ein Rudel Wölfe lauert. Aber sie marschieren nicht weiter.«
Die Generäle trugen die militärische Uniform des Kaiserhofes mit dem Quadrat des Mandarin auf Brust und Rücken. Das kunstvoll gestickte Tier darin gab den militärischen Rang an, einen von neun. General Mu trug ein chinesisches Einhorn, was ihn als den Höchstrangigen auszeichnete. Der ranghöchste General nach ihm trug einen Löwen, die übrigen vier einen Leoparden, einen Tiger, einen Bären und einen Panther.
»Wir müssen einen Spion in unseren Reihen haben«, beharrte der mit dem Leoparden.
»Das kann nicht sein«, widersprach General Mu. »Seit wir hier sind, wurde jeder einzelne Mann überprüft. Dafür habe ich persönlich gesorgt.«
Nachdenklich zwirbelte Senggerinchin seine strähnigen Bartenden zwischen den Fingern, während die schweren Regentropfen auf das Zeltdach trommelten. Langsam ging er zu seinem vergoldeten Stuhl und ließ sich schwer darauf niedersinken. Das unerwartete Verhalten der Briten hieß, dass der Blauäugige sie noch führte. Die Attentäter mussten versagt haben.
Gerade war er zu dieser Schussfolgerung gekommen, als zwei Soldaten ins Zelt kamen, zwischen sich einen hageren Mann, der die zerrissenen grauen Kleider eines Lastenträgers der Briten trug. Er war offensichtlich hart geschlagen worden und hatte wohl mehrere Tage nichts gegessen. Die Soldaten waren Offiziere des Schwarzen Horqin-Banners und die Leibwächter Senggerinchins.
»Wir bitten um Euer Gehör«, sagte Leutnant Ling und stieß den Kuli zu Boden, damit er vor dem Prinzen kniete.
Der zeigte auf seine Generäle und befahl: »Alle raus.«
Diese senkten den Blick und eilten aus dem Zelt.
»Ich darf vermuten, dass der Blauäugige tot ist?«,
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