Zeitriss: Thriller (German Edition)
beachten.«
27.
Kalifornien, Nordamerika
Enterprise Corporation
Stammhaus, Vorstandsetage
19. Juli 2084
Ortszeit: 11.14 Uhr
35 Tage vor dem Esra-Transport
Wilson stieg in den Aufzug und drückte auf den Knopf für die zwölfte Etage. Er schaute nicht auf die verspiegelten Wände, weil er seinen mürrischen Gesichtsausdruck nicht sehen wollte. Aus den Lautsprechern an der Decke klang Unheil verkündend Beethovens Fünfte und vertiefte seine Angst, während die Kabine zur dünnen Luft der Vorstandsetage aufstieg.
Jasper hatte ihn bestellt, um mit ihm über das Esra-Unternehmen zu sprechen. Der künftige Firmenchef hatte immer offen dagegen opponiert. Es schien, dass seine Geduld und sein Appetit auf Risiko seit der Jesaja-Mission restlos erschöpft waren. Und kaum war Wilson damals aus der Vergangenheit zurückgekehrt, ergaben sich die Einzelheiten des nächsten Auftrags. Anfangs war die Durchhaltekraft der Mitarbeiter auf eine harte Probe gestellt. Selbst Wilson hatte wenig Verlangen gehabt, sich darauf einzulassen. Die seelischen Schrammen durch seinen vorigen Auftrag waren lähmender als jede seiner körperlichen Verletzungen, und nicht nur er brauchte Zeit, um neue Motivation aufzubauen und sich auch nur an ein zweites Projekt heranzuwagen.
In diesem Zusammenhang hätte sich sein Groll gegen Jasper eigentlich auflösen müssen, doch Wilson empfand ihn nach wie vor. Jasper war ein Mann, der seine Mitarbeiter durch Angst motivierte. Wenn es nicht so lief, wie er wollte, begann er zu drohen und pochte auf seine Bedeutung als Firmennachfolger, um seine Absichten durchzusetzen. Dieses Verhalten war Wilson zuwider, und er sah es als seine Aufgabe an, dagegenzuhalten, weil andere zu viel Angst hatten, um das zu tun. Dabei hatte sich seine Opposition zu Verachtung gesteigert. Er konnte Jasper nicht leiden; er musste und wollte ihm keine Sympathie entgegenbringen und hatte das seiner Meinung nach auch nicht nötig. Ihm konnte es egal sein, ob Jasper nun zu den mächtigsten Männern der Welt gehörte. Wenn dieser ihn rauswerfen wollte, konnte ihm das nur recht sein.
Die Aufzugtüren öffneten sich, und wie erwartet stand draußen eine aufsehenerregende Brünette, die ihn ins Allerheiligste führen sollte. Sie war Anfang zwanzig, sehr groß, breitschultrig und sonnengebräunt. Ihr fülliges braunes Haar war zu einem scharfkantigen Bob geschnitten, und ihre Wangen waren wie gemeißelt. Wilsons Staunen hatte sich längst abgenutzt. Die Vorstandsetage war bekannt als die Zentrale der schönsten Frauen des amerikanischen Kontinents. Geld und Macht zog diese Amazonen in den zwölften Stock, wie Blütennektar die Bienen anzog.
»Mr. Dowling, ich darf Sie wieder einmal willkommen heißen«, sagte sie. »Ich heiße Minerva Hathaway.« Sie war ganz geschäftliche Nüchternheit: kein Lächeln, keine einladende Körpersprache.
»Es ist wunderbar, wieder hier zu sein«, erwiderte Wilson trocken. Er schaute über den Marmorboden und auf die weite Glaskuppel. Die Vormittagssonne schien herein, und die Helligkeit war im ersten Augenblick geradezu schmerzhaft.
»Sie kommen fünfzehn Minuten zu spät«, sagte Minerva, dann drehte sie sich um und glitt mit offensichtlicher Hast durch das luxuriöse Foyer. Sie trug einen blau-grün karierten Faltenrock und eine schlichte weiße Bluse mit passend karierten Manschetten.
»Das Karomuster Ihres Rockes heißt Forbes Tartan«, bemerkte Wilson, der das mal in einem Buch gesehen hatte. »Es kommt aus Aberdeen an der Nordostküste Schottlands.«
Ihre Absätze knallten auf dem Marmor. »Das ist sehr interessant, Mr. Dowling, aber wir liegen in der Zeit zurück, und ich muss Sie zum Besprechungszimmer bringen. Jasper Tredwell wartet nicht gern.«
»Er wird damit rechnen, dass ich zu spät komme.«
»Er rechnet damit, dass ich Sie pünktlich zu ihm bringe«, erwiderte sie. »Er hat eine Viertelstunde für die Besprechung mit Ihnen veranschlagt. Bitte beantworten Sie seine Fragen so direkt wie möglich. Und bitte schütteln Sie ihm nicht die Hand – er hält nichts von dieser Sitte.«
»Ja, ja«, sagte Wilson. Das wusste er alles.
»Beeilen Sie sich bitte«, fügte sie noch hinzu.
Doch Wilson bremste darauf seinen Schritt. »Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nichts über Ihr Rockmuster erzählen soll?«
»Bitte gehen Sie schneller, Mr. Dowling.«
Doch Wilson ließ sich vom Anblick der zahllosen Frauen ablenken, die auf dieser Etage arbeiteten und die alle jung und umwerfend waren. Manche
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