Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
wieder aufgewacht bin, waren sie weg.«
»Wohin hat er sie gebracht?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Finn. »Da ist noch was. Er hat mir einen Zettel dagelassen. Darauf steht: Bring James zu mir – unverletzt. Hast du ihn gefunden?«
»Wohin sollen wir ihn bringen?« Meine Stimme wird immer höher, Hysterie schwingt darin mit. »Wo sind sie? Er wird sie umbringen!«
Visionen von Blut und Knochen und Schmerzen steigen vor meinen Augen auf. Meine Verbindung zu dieser Welt ist so hauchdünn, nun, da sich Marinas Leben in den Händen des Doktors befindet, dass ich jeden Moment damit rechne, mich in Luft aufzulösen.
»Nein, Em, denk nach.« Finns Stimme ist wie ein Seil, das mich zurück auf die Erde zieht. »Wenn er sie hätte umbringen wollen, dann hätte er es gleich hier, auf der Straße, getan. Wir sind diejenigen, die ihn verraten haben, also sind wir es auch, die er bestrafen will. Er wird ihnen nichts tun, bis wir da sind. Sie sind einfach nur …«
»Werkzeuge«, sage ich. Der Doktor weiß, dass er mich am besten durch Marina treffen kann. Er wird ihr all das antun, was er mir angetan hat. Es hat vier Jahre gedauert, mir all meine Illusionen über James zu rauben, aber bei ihr könnte er das innerhalb von Minuten schaffen.
»Em, du musst wissen, wo er ist«, sagt Finn. »Er hätte es uns gesagt, wenn er glauben würde, dass du es nicht rauskriegst.«
Ich zermartere mir das Hirn. James hatte Lieblingsplätze – ein Café in der M Street mit großen weichen Sesseln, einen speziellen Tisch am Fenster in der Bibliothek –, aber keinen, an den er Geiseln bringen könnte. Ich habe keine Ahnung, wohin er mit ihnen gefahren ist. Er wird ungeduldig werden und sie umbringen, und das nur, weil ich seine Gedanken nicht erraten kann.
Oh.
Die Panik oder vielleicht auch die diversen Schläge auf den Kopf müssen meine Synapsen verstopft haben, weil ich gut zehn Sekunden brauche, bis mir aufgeht, dass ich einen weiteren James direkt vor mir habe. Er hat noch immer die Waffe auf mich gerichtet, aber es wirkt nicht sehr überzeugt. Die Pistole verrät das Zittern seiner Hand. Er ist rot und zerstrubbelt von unserem Gerangel, aber seine Atemzüge gehen zu schnell, als dass allein die körperliche Anstrengung daran schuld sein kann.
»Bleib, wo du bist, Finn. Ich komme und hole dich.« Ich klappe das Handy zu. »Du musst wissen, wohin er gehen würde.«
»Was ist los?«, fragt James langsam, als müsste er sehr darauf achten, beherrscht zu klingen.
»Es geht um dich, dein zukünftiges Ich«, sage ich. »Du bist uns zurückgefolgt, und du hast Finn und Marina als Geisel genommen.«
»Warum?«
»Um mich zu bestrafen. Und um mich davon abzuhalten, das zu tun, weswegen ich gekommen bin.«
»Du meinst doch nicht, dass ich sie verletzen würde?«
»Es tut mir leid, aber das ist genau das, was ich meine.« Ich bedaure fast, dass ich ihm das sagen muss. Niemand sollte so plötzlich mit den finsteren Abgründen konfrontiert werden, die in einem lauern. »Er wird sie beide umbringen, weil das der einzige Weg ist, Finn und mich endgültig zu stoppen.«
James’ Gesicht erstarrt zu einer Maske des Entsetzens. Was denkt er jetzt wohl? Denkt er an Marina, daran, wie sehr er sie mag und dass er am Boden zerstört wäre, wenn ihr etwas passieren würde? Der Doktor wäre es nicht mehr, aber dieser Junge vielleicht schon.
»Wir müssen ihnen helfen«, sagt er. »Ich weiß, wohin er sie gebracht hat.«
»Wir?«
»Du schaffst das nicht allein, und ich auch nicht.«
»Warum sollte ich dir trauen?«
»Du hast keine große Wahl, oder?«, blafft James. »Du findest sie ohne mich nicht einmal. Hör zu, ich weiß, dass du mich für ein Monster hältst, aber Marina und Finn sind die einzigen Menschen auf der Welt, die mir noch wichtig sind. Ich werde nicht zulassen, dass jemand ihnen wehtut. Also, wie wär’s mit einem Waffenstillstand, bis sie in Sicherheit sind?«
Ich starre ihn an. Er ist noch nicht der Doktor, aber er wird es eines Tages sein. Ich kann ihm auf keinen Fall trauen.
Aber dann muss ich an Marina denken. Ich male mir aus, dass sie weint, Schmerzen hat, vielleicht schon stirbt, und ich habe keine Wahl. Ich muss alles tun, koste es, was es wolle, um ihr zu helfen.
»Okay«, sage ich. »Waffenstillstand.«
»Gut. Aber ich behalte die Pistole.«
Der gestohlene Chevy steht immer noch da, wo ich ihn abgestellt habe. Ich setze mich ans Steuer, James auf den Beifahrersitz, die Waffe auf mich gerichtet.
Zuerst fahren
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