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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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dieser kurzen Zeit bereits ein Dutzend Männer mit dicken Backen ihren Tabaksaft mehr oder weniger gekonnt und mehr oder weniger umsichtig in die Porzellanspucknäpfe gespien, die überall auf dem Boden der großen Eingangshalle herumstanden; manche machten sich noch nicht einmal die Mühe zu schauen, wohin sie zielten und ob sie trafen. Ich versuchte an etwas anderes zu denken, bahnte mir meinen Weg durch die Halle, kam dabei an einem riesigen Hut- und Stockständer, einem Eisenbahnfahrkartenschalter, einem Telegrafenbüro und einem Zeitungs-und Tabakstand vorbei und erreichte schließlich ein großes, unglaublich lautes Restaurant, wo ein großes Schild in einem Eichenholzrahmen die Besucher um Zurückhaltung bat: Keine Flüche, bitte stand darauf. Ich bestellte zwei Dutzend Austern, die an diesem Morgen frisch aus der Bucht von New York geholt worden waren und die absolut großartig schmeckten; ich war froh, hierhergekommen zu sein.
    Mit der Hochbahn fuhr ich zum Gramercy Park zurück. Ich hatte gleich östlich des City Hall Park eine Station der Bahn entdeckt, stieg dort ein und fuhr mit ihr über den Chatham Square nach Norden; es stellte sich heraus, dass es die alte Hochbahn der 3rd Avenue war. An das Aussehen der Leute hatte ich mich mittlerweile gewöhnt; aber am Chatham Square stieg eine Familie zu, von der ich meinen Blick nicht abwenden konnte. Sie schienen geradewegs von Ellis Island zu kommen, und ich konnte – unglaublich für jemanden aus dem zwanzigsten Jahrhundert – allein aufgrund ihrer Kleidung sagen, woher sie kamen. Der Vater, der einen großen hängenden Schnauzbart hatte, und der zehn Jahre alte Sohn trugen blaue Stoffmützen mit glänzend schwarzen Zipfeln auf dem Kopf, kurze, doppelreihige blaue Jacken mit Porzellanknöpfen; um ihren Hals hatten sie kleine Tücher gebunden, und ihre Hosen, die von den Hüften abwärts breiter wurden, waren unten an den Beinen zusammengebunden. Und obwohl der Vater Stiefel anhatte, trug der Junge  – ich war fasziniert und musste mich zwingen, wegzublicken  – Holzschuhe. Die Mutter war gedrungen, rotwangig, mit zwei Dutzend Röcken und genau jener Art von Kopfbedeckung versehen, die auf dem Label des Old Dutch Cleanser zu sehen ist. Auf dem Boden, zu Füßen des Vaters, stand eine Reisetasche, auf dem Sitz neben ihm ein großes Stoffbündel. Die Familie sah freundlich und zufrieden aus und kommentierte die vorbeiziehenden Eindrücke in ihrer Sprache, Holländisch, was es ohne Zweifel war. Sie sahen wunderbar aus, wie aus einer Werbung für Schokolade. Und mir wurde bewusst, dass zu diesem Zeitpunkt – wohl zum letzten Mal in unserer Geschichte – die Welt ein wunderbar bunter Ort war: dass Soldaten in Griechenland wahrscheinlich noch immer spitz zulaufende Schuhe trugen, lange weiße Strümpfe und kleine Ballettröcke; dass Türken Feze trugen und ihre Frauen Schleier; dass viele Eskimos noch immer keinen weißen Mann und seine Krankheiten kennengelernt hatten und Zulus noch glückliche »Wilde« waren, in einer nicht zubetonierten, plattgewalzten und verschandelten schmutzigen Umgebung.
    Da ich wusste, dass ich bald aussteigen musste, wandte ich endlich den Blick von der holländischen Familie ab und mich lieber wieder diesem seltsamen New York mit seinen niedrigen Häusern und Kirchtürmen zu, den höchsten Erhebungen der Insel. Mich beschlich ein komisches Gefühl, so über die Stadt hinwegblicken zu können und den Hudson zu sehen und die erstaunlich vielen Bäume, die die Alleen säumten. Manche von ihnen waren schöne große, alte Bäume, höher als die Häuser um sie herum; das Laub dieser vielen Bäume musste der Stadt im Sommer ein ländliches Flair verleihen, das sicher wunderschön war.
    Wir näherten uns langsam meiner Haltestelle, einen Augenblick lang erhaschte ich in einer der westlichen Querstraßen  – die siebzehnte? achtzehnte? – den Anblick eines prächtigen fünfstöckigen Apartmenthauses mit Mansardendach. Ich war mir ziemlich sicher, dass es – roter Backstein mit braunen Sandsteinfassungen – das Stuyvesant war. Ein Freund von mir, ein Künstler, der dort gelebt hatte, bevor sie das Haus irgendwann in den Fünfzigerjahren abrissen, hatte ein Aquarell davon in seinem Wohnzimmer hängen. Er trauerte dem Haus noch immer nach; sein Apartment war herrlich gewesen, mit hohen Fenstern, sechs Meter hohen Decken und vier offenen Kaminen. Es sei New Yorks erstes Apartmenthaus gewesen, sagte er, auch bekannt als

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