Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
stehen, dann ging er etwas zurück; ich sah, wie seine Hand den Auslöser drückte.
»Hab ihn«, sagte er. Dann war Julia an der Reihe. Ich war froh, dass sie keiner berührte, als sie sich setzte, denn wenn ich eingeschritten wäre, wäre ich unweigerlich niedergeschlagen worden. Der Fotograf drückte wiederum den Auslöser. Als sein Kopf wieder unter dem schwarzen Tuch auftauchte, wies Byrnes ihn mit ausgestrecktem Zeigefinger hinaus. »Sofort«, sagte Byrnes, der Mann murmelte ein schnelles »Ja, Sir« und trottete mit seinen Platten aus dem Zimmer. Einer der beiden anderen hatte einen Notizblock hervorgeholt. Byrnes blickte mich an. »Achtundzwanzig bis dreißig«, sagte er. Schnell schrieb es der andere auf. »Knapp eins achtzig, einhundertvierzig«, ergänzte Byrnes, der Stift des anderen flog nur so über das Papier. Byrnes beschrieb mich und meine Kleidung, inklusive Mantel und Hut, dann Julia und ihre Kleidung; der Mann mit dem Notizblock schrieb eifrig.
Byrnes winkte mich zu sich. »Geben Sie mir Ihre Brieftasche.« Ich griff in die Innentasche meines Mantels, um sie herauszuholen, und hatte das Gefühl, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde. Mit der anderen Hand holte ich aus der Hosentasche eine Handvoll Kleingeld; verächtlich reichte ich beides Byrnes. »Behalten Sie das Kleingeld«, sagte er und lächelte über seinen eigenen Witz. Die anderen Polizisten im Raum kicherten. Byrnes rührte die Brieftasche nicht an, schüttelte den Kopf und sagte: »Zählen Sie es.« Ich tat es: Ich besaß dreiundvierzig Dollar. Währenddessen schrieb Byrnes etwas in ein kleines Notizbuch und sah dann auf. »Wie viel?« Ich sagte es ihm, er trug den Betrag ein, riss die Seite heraus und gab sie mir – eine handschriftliche Quittung über dreiundvierzig Dollar, unterzeichnet von Thomas Byrnes, Inspektor. »Wir sind keine Diebe«, sagte er, wandte sich an Julia und bat sie ebenfalls, ihr Geld zu zählen. Er nahm das Geld – sie hatte neun Dollar – und reichte ihr die Quittung und die leere Geldbörse zurück. Julia dankte ihm trocken und fragte, warum er das Geld genommen habe. »Sie könnten versuchen zu fliehen«, antwortete er und zuckte mit den Schultern. »Aber ohne Geld kommen Sie nicht weit, nicht wahr?«
Dann wieder in die Kutsche, Byrnes uns gegenüber; wir schauten hinaus, warteten ab, was geschehen würde. Hinüber zur 5th Avenue, dann Uptown. »Wohin fahren wir?«, fragte ich.
»Das können Sie sich doch denken.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Gedulden Sie sich, Sie werden schon sehen.«
Unsere Kutsche fuhr über den Washington Square, der dem heutigen bis auf den Torbogen glich, sogar die meisten Häuser existierten bereits. Es schien mir unvorstellbar, dass nicht im nächsten Moment ein Auto auftauchen würde. Block für Block ging es weiter, die 5th hoch, begleitet von dem endlosen Hufgeklapper unseres Pferdes. Von Zeit zu Zeit blickte Julia mich an, ich versuchte ermunternd zu lächeln und sie auch. Dann sah ich wieder aus dem Fenster, versuchte Interesse für die Leute und Gebäude zu entwickeln, aber die Gewissheit, dass wir uns in ernsthaften Schwierigkeiten befanden, ließ mich nicht los.
Als wir schließlich zwischen der 47th und der 48th Street anhielten, ahnte ich, wohin wir fuhren – Julia schien es ebenso zu gehen. Und dort, hinter dem Gehweg vor unserer Kutsche, stand es: Andrew Carmodys Herrenhaus an der 5th Avenue, das exakt dem alten, noch immer bestehenden Flood Mansion auf San Franciscos Nob Hill glich; sogar der wunderbare Stein- und Bronzezaun um den kleinen Vorgarten war identisch. Die Tür der Kutsche war rasch geöffnet, der Fahrer winkte uns hinaus; wieder hielten uns er und Byrnes nach dem Aussteigen wieder am Arm fest.
Der Polizist klingelte an der herrschaftlich aussehenden Eingangstür, wir standen davor und warteten. Glaubte Carmody etwa, als er Julia und mich aus dem Verschlag in Jakes Büro stürmen sah, dass wir irgendwie mit dem Erpressungsversuch in Verbindung standen? Wollte er uns nun dafür anzeigen?
Ein Hausmädchen öffnete die Tür; sie trug ein langes schwarzes Kleid mit Ärmeln bis zum Handgelenk, eine riesige weiße Schürze und ein kompliziert gestecktes weißes Häubchen. Ein Mädchen, keine fünfzehn Jahre alt, die Wangen so rot, als wären sie gerade geschrubbt worden. »Kommen Sie bitte herein, Gentlemen und Miss. Sie werden erwartet«, sagte sie in so respektvollem Ton, als fürchte sie sich. Weder Byrnes noch der Polizist sagten etwas.
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