Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Samstagabend im Sommer: Die Main Street ist voll, Leute aus der Stadt, Farmer vom Land. Sie kennen sich, bleiben stehen, um miteinander zu reden. Andere kommen hinzu und gesellen sich zu ihnen, auf den Gehwegen finden sich kleine Gruppen zusammen. Nicht wie in den verdammten Kaufhäusern. Wenn Sie hundertmal in ein Kaufhaus gehen, werden Sie meistens Fremde treffen, die Sie niemals zuvor gesehen haben und nie wieder sehen werden. In den Zwanzigern war dieser heute heruntergekommene kleine Platz einfach schön: Bäume, Gras, Sträucher, kleine Wege, grün gestrichene Bänke und viele Menschen. Manche Farmer kamen in Einspännern oder Kutschen. An den Bürgersteigen standen Pfosten zum Anbinden der Pferde, keine Parkuhren. Natürlich gab es auch Autos. Meist Model Ts. Ich hatte sogar einen Job als Mechaniker bei Pierce-Arrow.«
»Es überrascht mich, dass Sie diese Autos ertragen konnten. All diese Abgase.«
»Mag sein. Vielleicht war Winfield zwanzig, dreißig Jahre früher noch schöner. Wäre glücklich, wenn ich es sehen könnte. Major, ich muss wieder zurück, ich muss einfach.«
»Warum zum Teufel sind Sie dann hier?«
»Eigentlich bin ich nur für einen Tag hierher in die Gegenwart zurückgekommen, um zu sehen, was am Projekt vor sich ging. Sie hatten das Projekt übernommen. Nachdem es erfolgreich war. Sie und Esterhazy. Drängten Danziger hinaus. Er war Ihnen zu vorsichtig: machte sich Sorgen über die Veränderung von Ereignissen in der Vergangenheit, weil, wie er meinte, nicht vorhersehbar sein würde, welche Auswirkungen sie auf die Gegenwart hatten. Gefährlich. Aber Sie und Esterhazy rieben sich die Hände! Sie konnten es nicht erwarten, es zu versuchen, um herauszufinden, was dann passieren würde. Als ich zurückkam, habe ich das hier vorgefunden, Major. Es ist kein Durchgangstor mehr. Ich kann von hier aus nicht mehr zurück!«
»Das ist ja alles sehr interessant, John. Und Sie erzählen so schön. Aber ich war bei Ihrem Projekt. Gestern. Und Beekeys Lagerhaus ist ein Lagerhaus. Und ist es immer schon gewesen. Man sieht es auf den ersten Blick!«
»Das ist wahr. Gewissermaßen.«
»Und diese stinkende Stadt brauchte fünfzig Jahre, um so zu werden, wie sie jetzt ist; sie ist niemals restauriert worden!«
»Auch das ist wahr. Gewissermaßen.«
»Was soll das heißen: gewissermaßen?«
McNaughton nickte mehrmals vor sich hin, dann sagte er: »Major, vor vier, fünf Wochen nahm ich den Bus nach Montpelier. Die Hauptstadt dieses Staates. Ging in die Staatsbibliothek und ließ mir den Winfield Messenger herauslegen. Sie haben ihn komplett, von 1851 bis 1950; die Zeitschrift konnte ihr Jahrhundert nicht ganz vollmachen. Ich bekam die Bände von 1920 bis 1926 und habe etwas herausgeschnitten, gestohlen. Ich trage es die ganze Zeit bei mir. Denn das ist alles, was mir geblieben ist.« Aus der Innentasche seines Mantels holte er einen Umschlag aus Manilapapier und reichte ihn Rube.
Rube öffnete ihn. Innen lag ein drei Spalten breiter Ausschnitt aus der Zeitung. Ein Teil der Titelzeile lautete essenger, darunter, zwischen zwei Linien, stand das Datum: 1. Juni 1923. Darunter die Überschrift einer Fotografie, die Rube laut vorlas: »›Dichtgedrängte Menge bei der Parade.‹« Er beugte sich über das Foto und besah es sich sorgfältig: mehrere Reihen und Kolonnen von jungen marschierenden Männern, Gewehre über den Schultern, die alle Metallhelme und Uniformjacken mit hohem Kragen trugen. Ihnen voraus schritten zwei ebenfalls Uniformierte mit der amerikanischen Flagge und einem Banner. Rube las laut die Inschrift des Banners vor: »›American Legion Post – ‹«
»Nicht die Parade, die Zuschauer.«
Er sah ihn sofort: auf dem Gehweg, zwischen den dicken Stämmen der alten Bäume, stand die Menge: Männer, Frauen, Kinder, Hunde. Unter ihnen ein großer Mann, der einen flachen Strohhut mit schwarzem Band trug. Und unter der Krempe befand sich – scharf, deutlich und ohne jeden Zweifel – das Gesicht des Mannes neben ihm, das in die Kamera lächelte.
Er nickte mit dem Kopf und griff nach dem Umschlag. »Ja. Das bin ich. Hier in Winfield. Auf dieser Straße. Bei der Memorial-Day-Parade im Frühjahr 1923. Es gibt nun kein Projekt mehr, Major; es existiert nicht. Aber es hat einmal eins gegeben. Es hat wirklich existiert.«
»Schön. Und warum erinnere ich mich nicht mehr daran? Warum nur Sie.«
»Irgendetwas ist passiert, Major. Irgendetwas hat die Vergangenheit beeinflusst, das die
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