Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Sir. Macht es Ihnen etwas aus, mit jemandem einen Tisch zu teilen?« Er drehte sich um, nickte einem Tisch zu, an dem eine junge Frau alleine saß. Sie lächelte und nickte zustimmend zurück. Auch ich war einverstanden, und er begleitete mich dorthin. Sie trug ein breites Kopfband mit einer Feder und befestigte gerade ihren Ohrring, als ich näher trat. »Zweimal Tee?«, fragte der Kellner; ich blickte sie an und fragte: »Ist es Ihnen recht?« Sie nickte. »Gewöhnlich bin ich nicht so kühn«, sagte sie, »aber ich mag es nun mal überhaupt nicht, alleine beim Thé dansant zu sein. Beim Tanztee.«
»Oh, ich weiß, was Thé dansant heißt«, sagte ich und zog einen Stuhl zu mir her. »Ich spreche ein wenig Französisch. L’heure bleu! «
»Tiens. Croissant!«, sagte sie.
Damit war mein Französisch auch schon erschöpft, und ich fragte mich, ob ich es riskieren konnte – ich riskierte es. »Merde!« Aber sie lachte nur, lächelnd saßen wir uns gegenüber. Ich war froh, hier zu sein, denn ich erinnerte mich – erinnerte mich an die überwältigende Einsamkeit, die mich ab und zu in der fremden Zeit überfiel, als ich kein einziges menschliches Wesen auf der Welt kannte. Es war also sehr schön, hier zu sitzen, reden und ein wenig lachen zu können.
Der Kellner kam mit einem Tablett zurück, das wie Silber aussah und es wahrscheinlich auch war. Er stellte Tassen, Untertassen, zwei Teekannen, Sahnekännchen, alle aus hauchzartem, weißem Porzellan, und eine silberne Zuckerdose ab und legte kleine Löffel und Stoffservietten dazu. Ich betrachtete während der Zeremonie das Mädchen mir gegenüber, und – Auslöser war das Kopfband — eine Bezeichnung, ein Name tauchte in meiner Erinnerung auf: das Jotta Girl. Als fünfjähriger Junge habe ich einmal einige Monate bei meiner Tante verbracht, die in den Zwanzigerjahren ein, wie sie es nannte, richtiger ›Feger‹ gewesen war. Eines Tages fand sie in einer Schublade etwas, was sie in jenen Jahren getragen hatte, ein verziertes Kopfband mit langen Federn und unzähligen Glasperlen, das sich kaum von dem des Mädchens mir gegenüber unterschied. Meine Tante legte das alte Kopfband an und vollführte gekonnt, wie mir schien, einen Tanz, den sie Charleston nannte, und sang dazu ein Lied aus ihrer Jugendzeit, das ›Ja Da‹ hieß. Ich liebte diesen Tanz und dieses Lied, manchmal, wenn ich sie nett darum bat, machte sie mir beides vor, und ich versuchte, zu ihrem Vergnügen, es nachzumachen. Ich mochte das Lied wegen der unsinnigen Worte. Wir tanzten und sangen, ein stakkatoartiges ›Jotta …‹, ein Zwischentakt, dann wieder ›Jotta!‹. Wieder ein Zwischentakt, dann der Teil, der mein einfaches fünfjähriges Gemüt am meisten beeindruckte: ›Jotta, Jotta, Jink-jink-jing!‹ Wegen dieser Erinnerung war die junge Frau, die nun Tee eingoss, für mich das Jotta Girl.
»Ich heiße Helen Metzner«, sagte sie. »Ich bin Simon Morley.« Aber sie glich in keiner Weise der antiken Helena. Sie kam mir irgendwie vertraut vor, wie jemand, den ich einmal gekannt hatte, also blieb sie für mich das Jotta Girl. Wir widmeten uns unserem Tee, sie tat Zucker hinein und rührte fleißig um. Dann kam sie auf unseren Witz zurück, und sie sagte, um die Konversation aufrecht zu erhalten: »Ihr Akzent unterscheidet sich von dem vieler Franzosen — er ist natürlich besser!«
»Natürlich. Denn sie sind diejenigen, die den Aussprachetest nicht bestehen.« Sie lächelte und schwieg eine Weile; sie sah sehr gut aus. »Selbst wenn Sie als Französin geboren werden, kann die Aussprache zum Problem werden. Mit achtzehn hat man sich deswegen einem Aussprachetest zu unterziehen. Und trotz Anleitung und besonderen Gurgelmethoden fallen elf Prozent durch und werden für immer ins Exil geschickt.«
»Sie bekommen den gefürchteten roten Pass«, sagte sie.
»Nur alle zehn Jahre dürfen sie für eine kurze Zeit ihre Heimat besuchen.«
»Allo, Maman! Isch bin wieder da!«
»Sacre bleu! Fur wie langue?«
Wir hörten mit dem Blödeln auf; das Thema war ausgereizt. Die Musiker kehrten nun zurück und begannen ein Stück zu spielen, das ich nicht kannte, das aber denselben Rhythmus hatte. »Nun«, sagte das Jotta Girl, »wir sind beim Tanztee. Den Tee haben wir schon – sollen wir denn jetzt tanzen?«
Ich trug einen Ehering und hatte meine linke Hand auf den Tisch gelegt, sodass sie ihn sehen konnte; ich wollte nicht, dass irgendwelche Missverständnisse aufkamen. »Es tut mir leid«,
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