Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
wahr?«
»Gewissermaßen ja. Es kommt der Wahrheit sehr nahe.«
Sie schaute mich an, dann tat sie etwas, was Frauen manchmal tun: sie legte ihre Hände auf meine Schultern, ihre Unterarme berührten meine Brust. Dies hatte Auswirkungen auf meine Arme; ich konnte sie nun nicht mehr einfach so herunterhängen lassen. Es war also keine Absicht dahinter, bestimmt nicht! Sie war so nah, dass ich dem Duft ihres Parfüms nicht mehr ausweichen konnte, und sie sah so gut aus, dass meine Arme sich wie von selbst um sie schlossen und ich sie küsste. Bevor ich’s mich versah, hielt ich sie eng an mich gepresst und küsste sie atemlos. Dann – der kleine Mann in meinem Kopf kämpfte mit den Kontrollapparaturen, hängte sich an die Hebel und Schalter – und ich, oh, ich wollte es nicht, es war mir so klar, dass ich es lieber nicht wollte – ich ließ meine Arme fast augenblicklich wieder sinken und trat schnell einen Schritt zurück. »Das wollte ich nicht. Ich weiß nicht, was da plötzlich in mich gefahren ist.«
Sie lächelte nur und nickte. »Ich weiß. Aber ich wollte es. Ich bin schuld. Sie sind ein treuer Ehemann, nicht? Gut, setzen Sie sich, Si. Ich mag Ihnen nicht nachstellen.«
Ich konnte nicht schreiend aus dem Zimmer stürzen, also ging ich zu einem Sessel am Fenster hinüber. »Ja, verdammt noch mal, Sie sind schuld. Sie sind zu attraktiv. Viel zu attraktiv.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie mir langsam mein Kleid ausziehen wollen …«
»Hören Sie auf! Halten Sie den Mund, okay? Halten Sie einfach den Mund.«
»Natürlich würde ich Ihnen dabei helfen. Ich würde die Knöpfe …«
»Hören Sie jetzt bitte auf.«
»Okay. Aber es ist schade.«
Ich nickte nicht, schüttelte aber auch nicht den Kopf, denn es war wirklich zu schade. Warum war ich so? Warum konnte ich das nicht – mich völlig von allem anderen lösen. Eine Art kleine isolierte Insel, die keinerlei Verbindung … genug, genug; ich stand auf. »Mein Gott, sehen Sie nur, wie spät es ist.«
»Okay, ich lasse Sie gehen.« Sie ging zur Tür, gab sie jedoch noch nicht frei, sondern sagte: »Aber wissen Sie den überhaupt, warum ich hier bin, Si? Hier in New York? Ich bringe eine kleine Erbschaft durch, das ist alles. Ich verschwende sie, um ein wenig Spaß zu haben. Warum lassen Sie mich Ihnen nicht helfen? Ich habe Zeit, und es muss doch etwas geben, wobei ich Ihnen behilflich sein kann.«
»Klar«, sagte ich. »Schön, okay.« Endlich öffnete sie die Tür; ich machte eine kleine Show aus meinem Abgang, indem ich mit ängstlichem Gesicht an ihr vorbeihuschte, und sie tat so, als wolle sie auf mich losgehen, und wir mussten beide lächeln. Dann ging ich, noch immer lächelnd, zu meinem nur drei Türen entfernten Zimmer; ich mochte das Jotta Girl wirklich.
20
Ich musste den Abend totschlagen, eine Aufgabe, die, wie es zunächst schien, kaum zu bewältigen war; es wollte einfach nicht neun Uhr werden. Mit einem Stapel Zeitungen bewaffnet, lag ich ohne Schuhe auf dem Bett und hatte mir Kissen hinter den Rücken gestopft. Aber die World, der Express, die Tribune und die Post glichen fremden Zeitungen, die man im Urlaub kauft; sie sahen seltsam aus, hatten alles Vertraute verloren, besaßen die falsche Schrift und Schlagzeilen über Leute und Ereignisse, die mir fremd waren. Selbst die Comics waren mir fremd: ›Boot McNutt‹ … ›Lady Bountiful‹ … ›Foxy Grandpa‹ … ›Buster Brown‹ … ›Maud, the Mule‹. Und sie waren überhaupt nicht witzig.
Ich hatte die neueste Variety vor mir und suchte nach wie vor nach Tessie und Ted, fand aber nichts über sie. Ich durchsuchte das Artists’ Forum und die Ecke mit den Leserbriefen: nichts. Einer der Briefe lautete: Cleveland, Ohio, an den Herausgeber der Variety: Ich bitte um Richtigstellung des Berichts über Cleveland. Die Wahrheit ist, dass ich bei meinem Auftritt im Grand diese Woche der größte Lacherfolg war. Die unterzeichnenden Künstler derselben Veranstaltung bestätigten diese Tatsache. Sam Morris. Darunter fügte die Variety an: Die Künstler, die den Brief unterzeichnet haben, sind: Frank Rutledge, J. K. Bradshaw, Grace Bainbridge, The Four Bucks, Don Fabio, Miller and Mack, Onri Orthorpe and Co., und Wm. H. Rorkoph, Bühnendirektor.
Die Variety der letzten Woche lag auf der Heizung; ich holte sie mir nun und schlug, auf der Bettkante sitzend, die Seiten mit den Kritiken aus anderen Städten auf. Eng gedruckte Berichte von Varieté-Vorstellungen aus den ganzen
Weitere Kostenlose Bücher