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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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ihre Gesichter blicken? Nicht, wenn sie es nicht wollten und sich einfach wegdrehten, bis ich vorüber war. Meine Gedanken schweiften ab: Ja, es sah von hier aus wirklich wie ein hohes Schiff aus Stein aus, das jeden Moment den Broadway oder die 5th Avenue hinauffahren konnte. Ich holte meine Uhr heraus, deren Zifferblatt im blassen Licht der Laterne kaum zu erkennen war. Elf Minuten vor elf; irgendetwas musste ich mir einfallen lassen. Also stand ich auf, überquerte erneut den Broadway und blieb neben dem Gebäude stehen. Was nun? Ich war am Flatiron zahllose Male vorbeigegangen, aber nun, als ich direkt daneben stand, besah ich mir zum ersten Mal die Oberfläche; es bestand aus Steinquadern, die mit Mörtel verfugt waren. Ich streckte meine Arme aus und griff nach oben in eine Spalte, setzte meinen Schuh längs in die erste Fuge über dem Gehweg, streckte mein Knie und hing dann etwa zwanzig Zentimeter über dem Gehweg. Und wusste sofort, dass ich es gleich wiederholen musste, bevor ich anfangen konnte, lange darüber nachzudenken.
    Abwechselnd griffen meine Hände in die nächsthöhere Spalte, linke Zehe in die nächste Fuge, Knie durchgestreckt. Und gleich noch einmal, dann wieder; der rau behauene Stein schabte an meiner Kleidung, zerrte an den Knöpfen, scheuerte über meine Wange und fühlte sich kalt an.
    Wie eine Krabbe kletterte ich nach oben, klebte an der Fassade des Flatiron Building. Ohne nachzudenken kletterte ich weiter, bis ich mit dem Kopf sanft gegen die Unterseite des Steinsimses stieß, der sich – zur Freude jedes Fensterputzers – um das gesamte Gebäude hinzog. Dort hing ich nun fest, es ging nicht weiter: Ich konnte fallen, etwa zehn Meter tief, dachte ich, und, nein, nicht getötet werden – das glaubte ich kaum, vielleicht. Aber sicherlich konnte ich mir die Knochen brechen, die Schulter zerschmettern, wenn ich unglücklich aufprallte, oder, auch das konnte passieren, mir den Schädel einschlagen. Nicht denken, tu es einfach; langsam ließ ich mit der rechten Hand los, hob sie hoch, das Handgelenk fuhr über die Unterseite des Steinsimses, dann darüber, meine Hand krallte sich an die Kante. Jetzt sehr schnell mit der anderen Hand nachgefasst, denn meine Füße hatten keinen Halt mehr – ich hing baumelnd über dem Gehweg – und schnell, bevor die Kraft meiner Arme nachließ, zog ich mich nach oben, schob das Kinn über die Simskante und dann den ganzen Oberkörper; die Beine hingen noch in der Luft, aber ich war schon in Sicherheit und glücklich vor Erleichterung. Jetzt zog ich auch die Knie hoch. Und dann saß ich auf dem kleinen Steinvorsprung.
    Einen Augenblick, einige wenige Sekunden, in denen ich mir selbst gratulierte, saß ich dort oben im Dunkeln auf einem Sims der Fassade des Flatiron Building, mit dem Rücken bequem an die Mauer gelehnt, zwischen zwei dunklen Bürofenstern, deren Schriftzüge ich von dort aus nicht lesen konnte. Nur einen Augenblick – dann fiel mir blitzartig ein: Auf welcher Seite des Gebäudes treffen sie sich?
    Ich saß auf der Broadway-Seite und erhob mich nun; es war ziemlich dunkel hier oben, die Straßenlichter drangen nicht bis hier herauf. Das Sims war weiß, das war gut zu erkennen. Ich begann um das Gebäude herumzugehen, es kam mir vor wie eine Patrouille. Ich fühlte mich wie ein Idiot, der dort oben im Dunkeln langsam immer und immer wieder um das Flatiron Building schlich und die leeren Bürgersteige beobachtete; sorgfältig darauf bedacht, nicht zu stolpern; ich schlurfte fast dabei. Es wurde kalt, eine frische Brise war aufgekommen. Es musste inzwischen elf Uhr sein – wo blieben sie nur?
    Dann wieder langsam um den Bug. Ein einsamer Fußgänger kam nun über die 5th Avenue. Aber er wollte nicht hierbleiben, er schaute nicht einmal her. Ich bog um die Ecke der 23rd Street und ging weiter. Nichts.
    Nun die Ostseite des Broadway entlang; die Lichter der geschäftigen Großstadt lagen weit vor mir. Wieder zurück zum Bug, dann blieb ich dort stehen: wie eine Galionsfigur, die in die falsche Richtung blickte, stand ich da und beobachtete sowohl den Broadway als auch die 5th Avenue.
    Bis wieder jemand auf der 23rd Street erschien, den Broadway überquerte und auf das Gebäude zukam. Ich erkannte ihn, wie ihn jeder erkannt hätte, als er in den Kreis des düsteren, orangefarbenen Lichts der Straßenlaterne trat. Ich hatte diese Gestalt unzählige Male in alten Schwarz-Weiß-Filmen gesehen – die entschlossenen Bewegungen, die Kraft,

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