Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
bedeutete, meine Hand begann zu zittern, die Zeilen tanzten vor meinen Augen, und alles begann zu verschwimmen. Ich wollte es nicht, konnte aber nichts dagegen tun und sah auf den letzten Namen, gerade oberhalb der abgerissenen Seite. Und dort war er: Morley, William S. – das S stand für Simon – Seine Registrierungsnummer und GEF., 2. Dez. 1917. Gerade rechtzeitig zu Weihnachten!
Ich sah Rube stumm an; in seinem Gesicht stand Verzweiflung. Bevor ich etwas sagen konnte, beschwor er mich förmlich: »Sie mussten doch über Willys Schicksal Bescheid wissen, Si! Und Sie wollten es auch wissen, oder? Oder? Das habe ich nicht einfach erfunden; glauben Sie das bitte nicht. Es ist wahr.«
Ich war überzeugt davon, dass es stimmte, und dieser einzige Augenblick veränderte plötzlich alles. Ich würde in das New York im Mai 1911 gehen – ich musste es versuchen! – und das Unmögliche tun, das nur einem Gehirn wie dem Rube Priens entspringen konnte.
»Nein, ich mache Ihnen keinen Vorwurf«, sagte ich. »Es ist nicht Ihre Schuld. Nicht Ihre Schuld, Sie Hurensohn.«
27
Es war kein Problem, im Mai 1911 eine Erste-Klasse-Passage auf der Mauretania im Büro der Cunard Steamship Line auf dem Lower Broadway zu buchen. Nächsten Monat würde es vielleicht schwieriger werden, aber jetzt gab es noch viele freie Plätze. Danach kaufte ich neue Kleider, ebenfalls auf dem Lower Broadway: Hemden, Hosen, Schuhe, eine Jacke, Kopfbedeckungen für die Ausflüge an Deck. Sogar etwas Abendgarderobe. Und zwei Ledertaschen. Mit einem Taxi fuhr ich zum Pier zweiundfünfzig.
Ich packte in meiner Kabine aus, während wir den Hudson hinabfuhren; wir bewegten uns so sanft wie ein Billardball auf dem Filz – ich erhaschte einen Blick auf die City, die schnell an meinem Kabinenfenster vorbeizog. Als ich in meinen neuen steifen Klamotten das Promenadendeck betrat, passierten wir gerade die Spitze von Manhattan, vorbei am Ambrose-Feuerschiff, und dann lag auch schon die offene See vor uns.
Die Mauretania, die über alles geliebte. Franklin Roosevelt meinte, ›ihre eleganten, einer Yacht ähnlichen Linien faszinierten mich schon immer, ihre vier riesigen roten Schornsteine mit den schwarzen Banderolen, ihr ganzes Aussehen, das von Kraft und guter Abstammung zeugt … wenn es jemals ein Schiff gegeben hat, das so etwas wie eine ›Seele‹ besaß, dann die Mauretania … Jedes Schiff besitzt eine Seele. Aber die Mauretania hat eine, mit der man reden kann … Captain Rostron sagte mir einmal, sie besitze die Manieren und das Betragen einer ehrwürdigen Lady und benehme sich auch so.‹ Im Smithsonian, wenn man sich nur lange genug danach durchfragt, findet man es auch: F. D. Roosevelts Modell der geliebten Mauretania.
Es gibt nichts, was man an Bord eines Linienschiffes tun muss, nichts, worum man sich kümmern muss. Man wird wieder zum Kind, dem die lieben Eltern alles abnehmen. Also wechselt man – eher zum Zeitvertreib – mehrmals am Tag seine Kleidung. Spaziert auf dem Promenadendeck umher, immer im Kreis, zählt die Runden, atmet die gesunde klare Meeresluft und spürt neue Kraft in den Adern. Dann räkelt man sich auf einem Liegestuhl, und ein Steward bringt heiße Bouillon, die man sonst eigentlich nirgends trinkt, hier aber mag man sie. Man wird verwöhnt wie ein Prinz und ist doch gleichzeitig Gefangener: Es gibt kein Zurück mehr. Man befindet sich hier auf dem Schiff, und hier wird man bleiben, nichts wird dies ändern. Aber dieses ungewohnte Fehlen der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, ist befreiend. Und man gibt sich dem Luxus hin, umsorgt zu werden. Man verdöst Stunden an Deck, eingewickelt in eine Decke, die der Steward besorgt hatte, und lächelt ihm dankbar wie ein Invalide zu. Das dicke Buch, das man mitgebracht oder von der Bibliothek ausgeliehen hat, bleibt ungelesen, während man vor sich hindämmert, auf die See hinausschaut oder mit dem Nachbarn plaudert.
Es gab nichts zu tun, was einen auf Trab hielt. Ich wanderte durch die großen Räume, die ich in der Nacht, in der Archie abfuhr, schon aufgesucht hatte; die gläsernen Kuppeln leuchteten hell unter dem weiten Himmel der See. Diese majestätischen Räume gehörten nun uns, den wenigen Auserwählten, uns ganz allein.
Wir nahmen die erstaunlichsten und köstlichsten Mahlzeiten zu uns; alles, was das Herz begehrte, sollte in Erfüllung gehen – dessen rühmte sich die Mauretania und stand auch dazu. Beim Schlendern auf dem Deck dieses wunderbaren
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