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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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Messingschmiede  … Siederei …
    An einem langen dunklen Häuserblock vorbei, dann bog ich an der Mauer nach rechts ab, hinunter zum Lagan. Eine letzte Biegung in die Queen’s Road, dann waren zu beiden Seiten Ziegelmauern. Das Lohnbüro …, dann das Hauptbüro, darin ein schwaches Licht. Und zwischen ihm und der Werkstatt für Masten ein schmaler Durchgang.
    Ich stand da und horchte … dann griff ich mit beiden Händen nach dem oberen Mauerrand. Zog mich hoch, hing an meinen ausgestreckten Armen und lauschte. Keine Pfiffe, keine eiligen Schritte, keine knurrenden Hunde. Nichts, und schon lag ich mit dem Bauch oben auf der Mauer, schwang meine Füße darüber und ließ mich fallen. Dann starrte ich ungläubig auf das, was ich eigentlich hier erwartet hatte zu sehen – nur war es sehr viel größer, unglaublich viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte.

28

    Hier sehen Sie, was ich sah: Allerdings wurde diese Fotografie bei Tageslicht aufgenommen. Jetzt nahm ich es nur als schwarze Silhouette wahr, als riesige, scharf umrissene Form vor dem nächtlichen Himmel und dem Mond, der über dem Fluss stand, der das Schiff in zwei Tagen in Empfang nehmen sollte. Unter der Kiellinie des Bugs war der Stand zu erkennen, der auf die Dame mit dem Champagner und die Schiffstaufe wartete. Die Dame, die die Flasche an dem schwarzen Stahl zerbersten lassen würde und die – wie ich gelesen hatte – ›hydraulische Startvorrichtung‹ betätigen sollte. Dann würde es eine fast unmerkliche, langsame Bewegung geben: dreißig Zentimeter … einen Meter … und dieser enorme schwarze Koloss würde mit zunehmender Geschwindigkeit die schiefe Ebene hinabgleiten und mit dem Bug schäumend in das Wasser des Lagan eintauchen, der große schwarze Rumpf würde ein wenig schaukeln, aber schwimmen. Man würde ihn am Dock vertäuen, wo Kräne die Aufbauten aufsetzten und das Schiff ausgestattet werden würde. In bemerkenswert kurzer Zeit würde die Titanic zu ihrer einzigen, mörderischen Reise auslaufen.
    Aber nein; dies sollte nicht geschehen. Ich stand in der Dunkelheit zwischen den beiden Gebäuden, sah hinauf und empfand plötzlich nur noch Abscheu für dieses neue Schiff, das hier in den Himmel aufragte. Wir personifizieren Schiffe gerne, sie scheinen menschliche Eigenschaften zu besitzen: Es gibt gute Schiffe und störrische Schiffe, die sich verweigern, und mir kam diese gigantische Silhouette bösartig und feindselig vor: Das Schiff wusste – dieser monströse Rumpf wusste jetzt schon genau, dass er Hunderte von Menschen, die ihm auf seiner einzigen Reise vertrauten, verraten würde. In diesem Moment lag irgendwo, Hunderte von Seemeilen entfernt, ein riesiger Eisberg, der auf das Rendezvous zutrieb, und dieser schwarze Bug wartete nur darauf, sich entlang der eisblauen Eismasse aufschlitzen zu lassen – eine Eismasse, die er genauso gut um wenige Meter oder Zentimeter hätte verfehlen können.
    Nun, ich war hier, um dieses Rendezvous zu verhindern. Ich riss mich zusammen und machte mich auf den Weg zu ihr – bewegte mich von Schatten zu Schatten, blieb stehen und horchte –, hin zur Titanic, deren Ladeluken offen standen. Rubes Idee war denkbar einfach: Ich sollte die Titanic bereits jetzt zu Wasser lassen.
    Am Bug, hinter dem Zeremonienstand, suchte ich mit meiner Taschenlampe nach der Startvorrichtung, dem ›Abzugshebel‹, wie Rube ihn bezeichnet hatte. Er musste sich irgendwo hier vorn befinden, in Sichtweite der Dame und der Champagnerflasche, um Start und die Worte ›ich taufe dich auf den Namen Titanic ‹ synchron ablaufen zu lassen. Doch ich konnte ihn nicht finden; nichts, was irgendeine Ähnlichkeit mit einem Abzugshebel aufgewiesen hätte. Ich ging wieder zurück und dann hinüber auf die Steuerbordseite. Auch hier nichts.

    Dann weiter, hinein in diesen Tunnel unmittelbar unterhalb des Schiffsrumpfes – auch diese Fotografie stammt nicht von mir, aber das war es, was ich im Schein meiner Taschenlampe sah: einen Wald aus Holzpfosten, der die unvorstellbare Masse über mir trug. Hier in dieser fast völligen Dunkelheit, so einsam wie selten zuvor, spürte ich, wie sich mein Gesicht vor Scham rötete. Wie, wie konnten wir so dumm sein? Anzunehmen, ein Schiff wie dieses könnte so einfach und zufällig zu Wasser gelassen werden. Viel, sehr viel gab es hier vor der Abschlusszeremonie noch zu tun. Eine Art Rollwagen, die auf den Gleisen fuhren – das konnte ich nun erkennen – mussten die

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