Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
lange weiterzumachen, wie sie wollten. Rossoff sagte: »Schließen Sie die Augen.« Ich schloss sie. »Okay, es ist letzte Nacht. Sie stehen hier und blicken auf den Park hinunter. Halten Sie die Augen geschlossen und versuchen Sie, alles wieder vor Ihrem inneren Auge aufstehen zu lassen. Sobald Sie etwas erblicken, beschreiben Sie es, Si, ganz genau bitte.«
Einen Augenblick später sagte ich: »Vollkommen weißer Schnee, unberührt, ohne Spuren; es ist schön … die Bäume erscheinen vor dem weißen Schnee kohlrabenschwarz. Die Straße ist ganz mit Schnee zugedeckt, ohne alle Spuren: Ich sehe, dass meine Fußspuren verschwunden sind und dass es noch immer schneit. Im Licht der Laternen glitzert der Schnee, nichts bewegt sich, gar nichts; nichts ist zu hören. Ich stehe hier, schaue noch einige Sekunden auf den Park, dann entschließe ich mich, ins Bett zu gehen. Ich drehe mich um und will gerade das Wohnzimmer betreten. Da sehe ich, dass einige Fenster im Museum of Natural History noch erleuchtet sind – die Putzfrauen, nehme ich an. Ich ziehe die Vorhänge zu und … das ist alles, es tut mir leid.« Ich drehte mich zu ihnen um und ging in das Zimmer zurück. »Dann ging ich ins Bett und schlief die ganze …«
Ich beendete den Satz nicht. Dr. Danziger erhob sich langsam, baute seine eins neunzig vor uns auf, es war Leben in ihn gekommen. Er eilte auf mich zu, die Hand ausgestreckt, und packte mich schmerzhaft fest an der Schulter. Er drehte mich wieder zur Balkontür hin und schob mich vor sich hinaus. Er trat nach mir ins Freie und sagte: »Schauen Sie!« Seine große alte Hand mit ihren hervortretenden Adern fuhr vor mein Gesicht, packte mein Kinn und drehte meinen Kopf nach Norden. »Dahin haben Sie letzte Nacht geblickt! Und jetzt sagen Sie mir: Wo ist das Museum?«
Ich konnte es nicht sehen, natürlich nicht. Zwischen mir und dem Museum standen vier dicke Blocks mit Apartmenthäusern, die noch viel höher als das Dakota waren. Das Museum war nicht zu sehen – nicht von diesem Balkon aus – nicht mehr seit den späten Achtzigern des neunzehnten Jahrhunderts. Und als das in mein Gehirn vorgedrungen war und ebenso Rube und Oscar begriffen hatten, was das bedeutete, flüsterte Rube: »Er hat es geschafft.«
Dann brüllte er mit rotem Gesicht: »Er hat es geschafft! Oh mein Gott, er hat es wirklich geschafft!« Oscar und Rube stürzten sich auf meine Hand, schüttelten sie, gratulierten mir und dann sich selbst, während ich töricht lächelnd danebenstand, nickte und die Tatsache zu verarbeiten suchte, dass ich in der letzten Nacht für kurze Zeit aus diesem Apartment hinaus in den Winter von 1882 getreten war. Dr. Danzigers Augen waren halb geschlossen; ich sah ihn einen Augenblick lang wanken. Ich glaube, er stand kurz vor einer Ohnmacht. Dann redeten alle durcheinander, grinsten sich an, machten lausige Witze, und während ich mich daran beteiligte, antwortete, zurückgrinste, erregt und ausgelassen war, stand ich gleichzeitig im Geist wieder auf diesem Balkon, mitten in der stillen weißen Nacht, und konnte etwas sehen, vor das sich schon seit Langem, schon seit Jahrzehnten, fünf gigantische Straßenblöcke geschoben hatten.
Zwanzig Minuten später saß ich im Lagerhaus in einem Raum, an den ich mich vage erinnern konnte; vermutlich hatte ihn mir Rube einmal während einer Führung gezeigt. Ich hatte auf einem Drehstuhl Platz genommen; an meinem Hals war ein kleines Brustmikrofon mit Klebeband befestigt. Neben mir lief ein Tonbandgerät, und ein Mädchen saß an einer beinahe lautlosen elektrischen Schreibmaschine und hörte über kleine Kopfhörer mit minimaler Zeitverzögerung meine aufgezeichnete Stimme ab. Danziger, Rube, Rossoff, der Princeton Historiker, Colonel Esterhazy und ein Dutzend andere, die ich bereits früher kennengelernt hatte, hatten sich hier eingefunden, lehnten an den Wänden, hörten zu und warteten.
Ich sagte: »Frederick Boague – Frederick N. Boague, New York. Zum letzten Mal vor dreieinhalb Jahren in der Kunstakademie gesehen.« Eine Sekunde lang dachte ich nach, dann sagte ich: »Es lief ein Film, The Graduate. Anne Bancroft spielte mit, und ein Typ namens Dustin Hoffman. Regie führte Mike Nichols.« Ich hielt inne und lauschte dem gedämpften Klappern der Schreibmaschine. »Es gibt Hershey-Riegel, Schokolade. Braune Papierverpackung mit silberner Aufschrift.« Eine Pause. »Clifford Dabney, New York City, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, ein Werbetexter. Elmore
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