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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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noch dauern wird, bis irgendein Genie darauf kommt.«
    Der Zug bog direkt nach Verlassen der Station in eine scharfe Linkskurve, dann, etwa einen Block weiter, in einer Kurve nach rechts ab. Ich wusste nicht, wo wir uns befanden oder welche Straße wir gerade überquerten. Aber wir bewegten uns in die richtige Richtung, direkt nach Norden, und hielten nur für ganz kurze Zeit an anderen Stationen. Die Leute um uns herum interessierten uns mittlerweile weniger als der Ausblick aus dem Fenster. Am Hut eines Mannes vorbei erblickten wir den westlichen Teil der Stadt; hinter dem spiegelnden Glas lag ein uns sehr fremdes nächtliches New York.
    Es gab Lichter, Tausende von Lichtpünktchen, aber sie erzeugten keine rechte Helligkeit; sie konnten kaum die Dunkelheit durchdringen; es waren die Lichter von Gaslampen, die aus der Ferne betrachtet weiß und regelmäßig brannten, aber auch von Kerzen und, wie ich annahm, Petroleumlampen. Keine Farben, kein Neon, keine erleuchteten Schriftzüge, nur eine alles umfassende Schwärze, die mit Lichtern gespickt war. Und alle diese Lichter leuchteten, wie mir auffiel, tief unter uns. Ein Manhattan, über dessen Dächer wir einen weiten Blick hatten. Die höchsten Gebäude waren die vielen Kirchen, die sich vor dem Hudson River abzeichneten, der unter dem aufgehenden Mond langsam an Konturen gewann. Kurz darauf – wir konnten den Mond nun nicht mehr sehen, denn er war höher gestiegen und befand sich direkt über uns – fiel sein Licht auf das Wasser, und der Fluss schimmerte silbern. Plötzlich erkannte ich die dunklen Umrisse der Masten von Seglern, die vor der Küste ankerten. Ich zitterte; ich starrte durch das Fenster auf die Fremdartigkeit der Stadt. Ich wusste, dass das dort Manhattan war und dort der Hudson lag, und trotzdem war alles meilenweit von mir entfernt.
    An der letzten Haltestelle stiegen wir aus, 6th Avenue und 59th Street, nur einen Häuserblock von dem Ort entfernt, an dem wir am Nachmittag den Central Park verlassen hatten. Wir überquerten die Straße und gingen schweigend durch den Park zurück. Zurück zu unserer Zufluchtsstätte, dem Dakota Building, wo wir alles in Ruhe besprechen konnten. Wir konnten es vor uns sehen, wie ein Turm ragte es vor dem mondbeschienenen Himmel auf.
     
    Nicht lange danach saßen Kate und ich im Wohnzimmer bereits vor unserem zweiten Drink; es waren gute starke Drinks aus Whiskey und etwas Wasser. Das Feuer brannte vor sich hin, und wir erzählten uns immer und immer wieder alles, was es über den blauen Umschlag und den Mann, der ihn aufgegeben hatte, und das kleine Bild des Grabsteins von Gillis im Schnee zu sagen gab. Nach einer kleinen Weile sagte ich: »Was von alledem, was du heute gesehen hast, hat den stärksten Eindruck auf dich hinterlassen? Die Straßen, die Leute? Die Gebäude? Der Anblick der Stadt von der Hochbahn aus?«
    Kate nahm einen Schluck von ihrem Drink und sagte zögernd: »Nein, die Gesichter.« Ich schaute sie fragend an. »Das sind nicht die Gesichter, die wir gewohnt sind«, erklärte sie und schüttelte den Kopf, als würde ich ihr widersprechen. »Die Gesichter, die wir heute gesehen haben, sind anders.«
    Und obwohl ich ihr eigentlich recht geben musste, erwiderte ich: »Das täuscht sicher. Sie kleiden sich anders. Die Frauen tragen kaum Make-up. Die Männer haben Kinnund Backenbärte …«
    »Das ist es nicht, Si. Wir sind Bärte gewöhnt. Die Gesichter sind einfach anders; denk mal darüber nach.«
    Ich trank einen Schluck, dann sagte ich: »Vielleicht hast du recht. Wahrscheinlich sogar. Aber auf welche Weise anders?«
    Wir vermochten es beide nicht zu sagen. Aber während ich in das Feuer starrte, an meinem Drink nippte und mir die Gesichter vorzustellen versuchte, die wir gesehen hatten  – im Bus, auf den Gehwegen der 5th Avenue, in der Hochbahn, in der vom Gaslicht erhellten Eingangshalle aus Marmor und Holz dieses seltsamen Postamts –, wurde mir klar, dass sie recht hatte. Plötzlich merkte ich, dass sich etwas verändert hatte: »Verschwunden«, sagte ich halblaut zu mir selbst und sah Kate an. Ich wollte wissen, ob sie dasselbe spürte. »Katie, wo sind wir? Was ist jetzt draußen vor dem Fenster? Sind wir noch immer im Jahr 1882?«
    Sie dachte einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf.
    »Und warum nicht?«
    »Weil …« Sie zuckte die Schultern. »Weil wir zurückkamen, das ist alles. Wir hatten alles erledigt, also kamen wir in dieses Apartment zurück und kehrten

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