Zentauren-Fahrt
sehen kannst.«
Sie beugte sich vor, und ihr Gesicht verschwand, was ihn an die Gorgone erinnerte. Dann zog sie wieder den Kopf zurück. »Gerade konnte ich sie sehen. Dann bin ich wirklich im Wirkungsbereich des Zaubers, nicht wahr?«
»Du bist bezaubernd«, stimmte er ihr zu.
Sie lächelte und beugte sich vor, um ihm einen Kuß zu geben – doch da verschwand ihr Gesicht wieder, und er spürte nichts mehr.
»So, jetzt muß ich wohl eine Bibliothek und einen guten Archivar ausfindig machen«, sagte er etwas beleidigt, als sie wieder auftauchte. »Wenn du schon bei mir bist, dann bleib mir wenigstens vom Leib.«
Sie lachte. »Ich bin bei dir. Du darfst bloß nicht versuchen, mich außerhalb des Feldes festzuhalten.« Ja, und eben das hätte er natürlich tun müssen, wenn er sie wirklich hätte küssen wollen. Und das wollte er auch – er wollte es nur nicht zugeben.
Sie schritt ein gutes Stück entfernt an seiner Seite, außerhalb des Zaubers. »Hat schließlich keinen Sinn, wenn du dich auch noch verirrst.«
So schritten sie in die Stadt. Auf den Straßen gab es viele Wagen, die alle auf die Kreuzungen zujagten, um dort kreischend anzuhalten, mit zornigem Fauchen und ständigem Rauchspeien aus ihren Hinterteilen eine Minute zu warten, um dann im Pulk auf die nächste Kreuzung zuzusausen. Sie schienen nur zwei Geschwindigkeiten zu kennen: Sausen und Anhalten. In den Wagen befanden sich Leute, genau wie Grundy es von den Dämonen erzählt hatte, aber sie stiegen nie aus. Es war beinahe, als wären die Leute mit Haut und Haaren verschlungen worden und als stünden sie gerade im Begriff, verdaut zu werden.
Weil die Wagen so groß waren wie Zentauren und ständig im Galopp herumjagten, wenn sie nicht gerade anhielten, war Dor vorsichtig und versuchte, sie zu meiden. Doch das erwies sich als unmöglich, da er irgendwann einmal die Straße überqueren mußte. Er erinnerte sich daran, wie der schreckliche Spaltendrache von Xanth Leuten auflauerte, die töricht genug waren, den Boden der Spalte überqueren zu wollen. Diese Wagen glichen ihm aufs Haar. Vielleicht waren ja einige darunter, die noch keine Leute verspeist hatten und hungrig umherrasten und auf jemanden wie Dor warteten. Er erblickte einen Wagen, der mit weit geöffnetem Maul wie ein Drache am Rand der Straße stand und schlug nervös einen Bogen darum. Das Merkwürdigste daran war, daß das Wesen seine Eingeweide alle in seinem riesigen Maul zu tragen schien – dampfende Röhren und eine tellerförmige Zunge. Noch seltsamer war freilich, daß es keine Zähne besaß. Vielleicht brauchten die Dinger deshalb so lange, um Leute zu verdauen.
Er gelangte an eine Ecke. »Wie komme ich auf die andere Seite?« fragte er.
»Du mußt warten, bis eine Ampel den Verkehr aufhält«, belehrte ihn die Straße in einem abfälligen Tonfall, der von Staub und Wagendämpfen geschwängert zu sein schien. »Dann läufst du auf die andere Seite, aber bloß nicht langsam gehen! Und wenn du Glück hast, erwischen sie dich nicht. Wo hast du bloß gelebt?«
»In einer anderen Welt«, erwiderte Dor. Er erblickte eine der Ampeln, die die Straße beschrieben hatte. Sie hing über einer Kreuzung und trug mehrere kleine Visiere, die in alle Richtungen zeigten und bösartige Farben abstrahlten. Dor verstand nicht, wie dies die Wagen dazu brachte, stehenzubleiben. Vielleicht besaßen die Lichter eine Art Betäubungszauber, oder wie immer man das hier nennen mochte. Er wollte sichergehen und bat die Ampel, ihm Bescheid zu geben, wenn es an der Zeit war, die Straße zu überqueren.
»Jetzt«, sagte die Ampel und blitzte auf einem Gesicht grün, auf dem andern rot.
Dor machte sich daran, die Straße zu überqueren. Einer der Wagen hupte wie ein Seeungeheuer und quiekte wie das Opfer eines solchen Seeungeheuers, wobei er beinahe über Dors ausgesteckten Fuß rollte. »Nicht in die Richtung, Idiot!« bellte die Ampel und blitzte in wütendem Rot. »Die andere Richtung! Bei Grün, nicht bei Rot. Hast du noch nie eine Straße überquert?«
»Nie«, gestand Dor. Irene war verschwunden; sie mußte wieder in das Zauberfeld eingetreten sein, um sich mit den anderen zu beraten. Vielleicht erschien ihr die Zauberzone auch sicherer; anscheinend waren die Wagen unfähig, sie darin zu bedrohen.
»Warte, bis ich’s dir sage, und dann geh auch in die Richtung, die ich dir sage«, sagte die Ampel heftig blinkend. »Ich will kein Blutvergießen auf meiner Kreuzung!«
Dor wartete bescheiden.
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