Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
erst das Gehirn einzuschalten, bevor ich den Mund aufmache.«
»Ich bin nur furchtbar erschöpft«, sagte Charlotte. »Für heute sollte ich wohl besser Schluss machen.« Als ich mich anschickte aufzustehen, schüttelte sie den Kopf. »Bleib ruhig und trink dein Bier.«
»Lass mich dich wenigstens zum Auto bringen …«
»Das kann ich schon allein, Piper. Wirklich. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.«
Ich nickte … und dumm wie ich war, vergaß ich es tatsächlich.
Amelia
Da saß ich also in der Schulbücherei – an einem der wenigen Orte, wo ich so tun konnte, als würde mein Leben nicht von deiner Krankheit beherrscht – und stolperte ausgerechnet über dieses Foto: In einer Zeitschrift war eine Frau abgebildet, die genauso aussah wie du. Es war irgendwie merkwürdig. Ich dachte unwillkürlich an diese FBI -Fotos, auf denen sie Kinder, die vor zehn Jahren entführt worden sind, künstlich älter machen, damit man sie auf der Straße erkennen kann. Da waren deine widerspenstigen, seidigen Haare, dein spitzes Kinn und deine krummen Beine. Ich hatte auch schon andere Kinder mit OI gesehen und wusste daher, dass ihr alle ähnliche Gesichtszüge habt, aber das hier war wirklich absurd.
Noch seltsamer war, dass diese Frau ein Baby im Arm hielt und neben einem Riesen stand. Er hatte die Hand auf ihre Schulter gelegt und grinste mit furchtbarem Überbiss in die Kamera.
»Alma Dukins«, lautete der Text darunter, »ist nur sechsundneunzig Zentimeter groß; ihr Mann, Grady, ist 1,93 m.«
»Was machst du da?«, fragte Emma.
Emma war meine beste Freundin; das war sie schon ewig. Als die anderen Kinder in der Schule herausgefunden hatten, dass ich, anstatt Urlaub in Disney World zu machen, eine Nacht bei einer Pflegefamilie hatte verbringen müssen, hatte Emma a) mich nicht wie eine Aussätzige behandelt und b) gedroht, jeden niederzuschlagen, der das tat. Nun stand sie hinter meinem Stuhl und schaute mir über die Schulter. »Hey, die Frau da sieht ja aus wie deine Schwester.«
Ich nickte. »Sie hat auch OI . Vielleicht ist Willow bei der Geburt ja vertauscht worden.«
Emma ließ sich auf den freien Stuhl neben mir fallen. »Ist das ihr Mann? Mein Dad könnte ihm die Zähne richten.« Sie schaute sich das Bild genauer an. »Himmel! Wie machen sie es wohl?«
»Das ist ja widerlich«, sagte ich, obwohl ich mich das Gleiche gefragt hatte.
Emma blähte eine Kaugummiblase auf. »Vermutlich sind alle gleich groß, wenn sie im Bett liegen, um unanständige Dinge zu tun«, sagte sie. »Aber ich dachte immer, Willow könne keine Kinder haben.«
Das hatte ich auch gedacht. Ich nehme an, niemand hat wirklich mit dir darüber gesprochen; du warst ja auch erst fünf, und glaub mir, ich wollte über so etwas Abstoßendes gar nicht erst nachdenken, aber wenn du dir schon beim Husten einen Knochen brechen konntest, wie solltest du da ein Baby aus dir rausbekommen oder du weißt schon was rein ?
Sollte ich irgendwann mal Teppichratten bekommen wollen, wäre das für mich kein Problem. Wenn du jedoch Kinder haben wolltest, würde das nicht leicht werden – falls es überhaupt möglich war. Das war natürlich nicht fair, aber was war schon fair an deinem Leben?
Du durftest nicht Schlittschuh laufen. Du durftest nicht Fahrrad fahren. Du durftest nicht Ski laufen. Und wenn du dann doch einmal bei einem Spiel mitmachen durftest, bei dem man körperlich aktiv werden muss – wie Verstecken zum Beispiel –, dann hat Mama immer darauf bestanden, dass du zwanzig zusätzliche Sekunden Zeit bekommst. Ich tat immer so, als würde mich das aus der Fassung bringen, damit du nicht das Gefühl hattest, bevorzugt zu werden; doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass das so richtig war. Mit deinen Krücken oder Gipsverbänden oder im Rollstuhl konntest du eben nicht so schnell laufen wie ich oder dich irgendwo in ein Versteck zwängen. Amelia, warte! , hast du immer gesagt, wenn wir irgendwohin gingen, und ich wartete dann auch, denn ich konnte dich auf eine Million andere Arten zurücklassen.
Ich konnte wachsen, während du nie größer als ein Kleinkind werden würdest.
Ich konnte aufs College gehen und von zu Hause ausziehen und musste mir nie Gedanken machen, ob ich an den Küchenschrankgriff oder an die Sicherungen reichte.
Und vielleicht würde ich später mal einen Kerl finden, der mich ganz nett fand, und ich würde Kinder bekommen und sie herumtragen können, ohne mich um Mikrofrakturen im Rückgrat sorgen zu
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