Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
gebracht haben könnte.
Als ich ankam, saßest du im leeren Gruppenraum auf einem Kinderstuhl neben Miss Watkins’ Tisch. Der Übergang zur öffentlichen Schule war weniger glatt verlaufen, als ich erwartet hatte. Ja, du hattest jetzt eine Vollzeitbetreuerin, bezahlt vom Staat New Hampshire; trotzdem musste ich jedes einzelne Recht für dich erst einmal erkämpfen – von dem Recht, alleine auf die Toilette gehen zu dürfen, bis zu der Erlaubnis, am Sportunterricht teilzunehmen, solange es nicht zu anstrengend war und du nicht Gefahr liefst, dir einen Knochen zu brechen. Das Gute daran war, dass es mich von der Klage ablenkte. Schlecht war, dass ich nicht bleiben durfte, um auf dich aufzupassen. Du warst in einer neuen Klasse mit neuen Kindern, die dich nicht kannten – und die nichts von OI wussten. Als ich dich nach deinem ersten Tag gefragt habe, wie es gewesen sei, hast du mir erzählt, dass du zusammen mit Martha gebastelt hast und dass ihr beide im selben Team für Capture the Flag seid. Ich fand toll, dass du eine neue Freundin hattest, und habe dir vorgeschlagen, sie mal zu uns einzuladen. »Ich glaube nicht, dass sie kann, Mom«, hast du geantwortet. »Sie muss Abendessen für ihre Familie kochen.«
Deine Betreuerin war die einzige Freundin, die du in dieser Klasse gewonnen hast.
Dein Blick huschte immer wieder in meine Richtung, als ich deiner Lehrerin die Hand schüttelte; aber du hast kein Wort gesagt. »Hi, Willow«, sagte ich und setzte mich neben dich. »Wie ich höre, hattest du heute ein wenig Ärger.«
»Möchtest du deiner Mutter erzählen, was passiert ist, oder soll ich es tun?«, fragte Miss Watkins.
Du hast die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf geschüttelt.
»Willow ist heute Morgen von zwei Kindern eingeladen worden, ein wenig mit ihrer Fantasie zu spielen.«
Ich strahlte. »Aber … das ist wunderbar! Willow liebt solche Spiele.« Ich drehte mich zu dir um. »Wart ihr Tiere? Oder Ärzte? Astronauten?«
»Sie haben Familie gespielt«, erklärte Miss Watkins. »Cassidy war die Mom, Daniel der Vater …«
»Und ich sollte das Baby sein«, hast du dich empört. »Ich bin kein Baby!«
»Willow ist sehr sensibel, was ihre Körpergröße betrifft«, erklärte ich. »Wir sagen immer, sie ist eben platzsparend.«
»Mom, sie haben immer wieder verlangt, dass ich das Baby spiele, weil ich die Kleinste bin, aber ich wollte nicht das Baby sein. Ich wollte den Dad spielen.«
Das war offenbar auch neu für Miss Watkins. »Den Dad?«, sagte ich. »Warum wolltest du nicht die Mom sein?«
»Weil Moms ins Badezimmer gehen, weinen und den Wasserhahn aufdrehen, damit niemand sie hört.«
Miss Watkins schaute mich an. »Mrs. O’Keefe«, sagte sie, »wir beide sollten uns mal kurz draußen miteinander unterhalten.«
Ganze fünf Minuten lang fuhren wir, ohne eine Wort zu sagen. »Es ist nicht okay, Cassidy einen Stock zwischen die Beine zu halten, wenn sie an dir vorbeigeht«, begann ich schließlich tadelnd. Allerdings fand ich es auch ziemlich findig, was du getan hattest. Du hattest nicht viele Möglichkeiten, jemandem wehzutun, ohne dich auch selbst zu verletzen. Sich zu diesem Zweck eines Werkzeugs zu bedienen, war ziemlich clever, wenn auch diabolisch. »Du willst doch sicher nicht, dass Miss Watkins dich schon nach einer Woche in deiner neuen Schule für eine Unruhestifterin hält, oder?«
Ich sagte dir nicht, dass ich rundheraus gelogen hatte, als Miss Watkins mich draußen auf dem Gang gefragt hatte, ob daheim vielleicht etwas vorgehe, was dazu führe, dass du dich in der Klasse abreagierst. »Nein«, sagte ich, nachdem ich eine Minute so getan hatte, als würde ich nachdenken. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, woher sie das hat. Andererseits hat Willow schon immer eine überschäumende Fantasie gehabt.«
»Und?«, hakte ich nun nach. Ich wartete weiterhin, ob du in irgendeiner Form anerkennen würdest, dass du eine Grenze überschritten hattest, die du nicht hättest überschreiten dürfen. »Möchtest du etwas sagen?«
Ich schaute dich im Rückspiegel an. Du hast genickt, die Augen voller Tränen. »Bitte gib mich nicht weg, Mommy.«
Fast wäre ich meinem Vordermann hintendrauf gefahren. Deine schmalen Schultern zitterten, und deine Nase lief. »Ich werde mich bessern«, hast du gesagt. »Ich werde perfekt sein.«
»Oh, Willow, Liebling. Du bist perfekt.« Die zehn Sekunden lang, die es dauerte, bis die Ampel umgesprungen war, fühlte ich mich im Sicherheitsgurt
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