ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
Titel des deutschen Schneekönigs tragen sollte?
Die Geschichten von Ronald und Friedrich sind nur zwei von vielen Beispielen aus einem Land, dessen Nationalcharakter oft als besonnen, streng, gut organisiert und seriös beschrieben wird. Sicher, Deutschland ist ein reiches und mächtiges Land, es ist die »Lokomotive« Europas, der Leuchtturm, der den Weg aus der Krise weist. Doch die Welt des Kokains ähnelt der Welt von Alice hinter den Spiegeln. Was man im Spiegel sieht, ist das Abbild, jedoch verkehrt herum. Von der einen Seite des Spiegels aus betrachtet, verkörpert Deutschland die Vernunft und Italien das Chaos. Von der anderen Seite aus ist Deutschland eine Wildnis, und in Italien herrschen Ordnung und Disziplin. Denn ein florierender Kokainhandel braucht zwei Grundbedingungen, die wie Wasser und Öl aufeinander reagieren und sich niemals vermischen: Chaos und Ordnung. Chaos, das ist der Fall der Berliner Mauer. Und die ehemalige DDR ist der Wilde Westen, unberührtes Land, das nur darauf wartet, entjungfert zu werden: vom Kapitalismus und von demjenigen, der die Möglichkeiten einer riesigen Handelszone unter freiem Himmel als Erster zu nutzen versteht. Alles steht zum Verkauf. Jedes noch intakte Gebäude, das Gewinn verspricht, jeder Betrieb, der auch nur die geringste Aussicht auf Kunden bietet, die über mehr Kaufkraft verfügen als vor dem
Mauerfall, jede Spelunke und jedes heruntergekommene Restaurant, das für neureiche Gäste umgestaltet werden kann. Der Eroberer muss nur über Bargeld verfügen, das er dringend in saubere Unternehmen investieren will, und über eine zielstrebige und gut strukturierte Organisation. In dieser Hinsicht ist die italienische Mafia bestens aufgestellt. Sie ist die Speerspitze des Kapitalismus, die ihren Willen überall dort durchsetzt, wo noch kurz zuvor Unordnung herrschte. Mit ihrer territorialen Eroberung verschlingt sie Räume und Ressourcen, durchsetzt ein gesundes Sozialgefüge und höhlt klammheimlich Recht und Gesetz aus. Laut Bundeskriminalamt war die ’Ndrangheta - die in Deutschland am besten verwurzelte der vier italienischen Mafiaorganisationen - 2009 vor Ort mit 229 ’ndrine im Bereich Geldwäsche und Drogenhandel aktiv. Eine massive, wenngleich unsichtbare Präsenz. Ein Netzwerk krimineller Interessen, das sich immer weiter verzweigt, ohne dass man in Deutschland etwas davon ahnt. Zumindest bis zur Nacht auf den 15. August 2007, als in Duisburg Sebastiano Strangio, Francesco Giorgi, Marco Marmo, Tommaso Venturi und Francesco und Marco Pergola kaltblütig erschossen werden. Sechs Hinrichtungen, die selbst den achtlosesten Deutschen erschrecken mussten. Sechs Männer, deren Tod nur dann verständlich wird, wenn man sechzehn Jahre zurückgeht und Europa auf einer Länge von mehr als 2000 Kilometern von Nord nach Süd durchmisst, bis hinunter in das Dorf San Luca, das Dorf mit dem Baum. Die Geschichte kennt jeder, der wie ich von diesen Ereignissen nicht loskommt, von ihren oftmals banalen Auslösern, so dass man zwei Jahrzehnte später zwischen einem angekohlten Heiligenbildchen des Erzengels Michael in der Hosentasche von Tommaso Venturi und Wurfgeschossen aus Eiern und Mehl einen Zusammenhang
herstellen kann, Wurfgeschosse, die - sei es versehentlich, zum Spaß oder als gezielte Kränkung - einen von der Familie Pelle betriebenen Freizeitverein und das Auto eines Mitglieds der Familie Vottari treffen. Je tiefer man gräbt, desto klarer wird, dass es immer einen roten Faden gibt, der die Ereignisse verknüpft, und sei er noch so dünn, zerschlissen oder sogar gerissen.
1991 bricht zwischen den Nirta-Strangio und den Pelle-Vot-tari, den einflussreichsten Familien von San Luca, eine Fehde aus. Den Anlass liefert ein Junge aus dem Clan der Nirta-Stran-gios, dessen Wurfgeschosse aus Eiern und Mehl ausgerechnet auf einem Auto der Erzfeinde Pelle-Vottari landen. Es ist ein Tag während des Karnevals, und alles ist erlaubt. An jenem Tag könnten die Zerwürfnisse und Misshelligkeiten, die Loyalitäten und Hierarchien vergessen werden. Nicht jedoch in San Luca, wo der Krieg um die Kontrolle des Territoriums seit jeher schwelt und keine Schmähung ungesühnt bleiben darf. Denn für die Pelle-Vottaris ist der eklige Brei eine schwere Beleidigung. Das verlorene Gleichgewicht muss wiederhergestellt werden, aber was ist das rechte Maß der Vergeltung? Wiegt ein Schuss ins Bein eines Verwandten den verletzten Stolz auf? Das gegenseitige Aufrechnen führt kaum je
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