ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
Cardenas sind. Noch dazu von New York aus und in einer Zeit, als die mexikanischen Nar-cos für die USA längst zum Staatsfeind Nummer zwei geworden sind und Heroindirektimporte der Taliban leichter nach Europa gelangen als eine kleine Lieferung aus Nordamerika. Dabei operieren die Kalabresen durchaus vorsichtig. Sie schicken nur mikroskopisch kleine Partien, manche so winzig, dass sie mit Expresspost hätten zugestellt werden können, und für die Verhandlungen haben sie den Big Apple nie verlassen. Trotzdem ist ihnen die DEA auf den Fersen. 2008 klicken die Handschellen, und die Dimensionen der Operation »Project Reckoning« (die auf italienischer Seite von der Antimafiastaatsanwaltschaft Reggio Calabria unter der Bezeichnung »Operazione Solare« koordiniert wird) werden der Öffentlichkeit bekannt. Die USA setzen die ’Ndrangheta jetzt auf ihre schwarze Liste. Ein schwerer Schlag, unverhältnismäßig aus Sicht der kalabrischen Organisation. Dabei hatten sie sich nicht nur vor der amerikanischen Drogenpolizei in Acht genommen, sondern auch gegenüber ihren neuen Partnern Vorsicht walten lassen. Keine große Geschäftsanbahnung, lediglich ein Testlauf, als sich die Gelegenheit dazu bot: der Versuch, einen zusätzlichen Kanal für Kokainlieferungen auszuprobieren, der einerseits sicher und einfach, andererseits aber auch voller Unwägbarkeiten war.
Die Kolumbianer waren weder interessiert noch in der Lage, den europäischen Drogenmarkt selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb ist es den Kalabresen weitaus lieber, direkt zu importieren, wie sie es immer getan haben. Das Problem zwischen den Kalabresen und den Mexikanern dagegen ist die Konkurrenz. Beide beherrschen die gesamte Vertriebskette des Drogen- und insbesondere des Kokainhandels, darin liegt ihre Stärke. Und beide haben sich die Schwäche des Produktionslandes Kolumbien zunutze gemacht. Doch nach der Zersplitterung der kolumbianischen Kartelle und deren wachsender Abhängigkeit von den Mexikanern ist das Narcobusi-ness der ’Ndrangheta heute komplizierter und unsicherer geworden. Es wurde notwendig, eine neue Methode auszuprobieren, um sich den veränderten wirtschaftlichen
Gegebenheiten anzupassen, ohne allzu große Risiken einzugehen. Die größte Angst der Kalabresen ist, dass die Mexikaner nach Europa kommen und ihre Schmuggelrouten erobern, und die offenkundige Absurdität des Drogenimports auf dem Weg über die Vereinigten Staaten spiegelt diese Angst. Die aggressiven Verkaufsstrategien der mexikanischen Kartelle sind für sie ein Albtraum, aber auch ihre militärische Aggressivität beunruhigt die Kalabresen, die sich als Repräsentanten einer gesünderen und zivilisierteren Alten Welt fühlen. Und die unberechenbare Grausamkeit, zu der diese Leute fähig sind, erhöht die Sekundärrisiken des Drogengeschäfts. Doch die ’Ndrangheta hat bereits eine Partnerschaft mit den Kolumbianern ausprobiert, die systematisch Blutbäder verüben, um die Kontrolle über ein Territorium zu gewinnen, und jahrelang davon profitiert. Dass die Zetas im Vergleich zu den Autodefensas-Gruppen noch kein unabhängiges und besonders mächtiges Kartell waren, könnte die Entscheidung der Bosse von Marina di Gioiosa Jonica für das New-York-Experiment durchaus beeinflusst haben.
Ich suche die Fotos von dem Baum neben der Wallfahrtskirche von Polsi und bedaure, mir nicht mehr Zeit genommen und seine Krone und Zweige nicht genauer betrachtet zu haben. Mein Begleiter war ein kalabrischer Carabiniere. »Eine Special Tour zu den Stätten der ’Ndrangheta«, meinte er. Ich konnte ein paar Fotos mit dem Handy machen, in das Innere des Baums kriechen und dort ein Weilchen bleiben, aber dann mussten wir weiter. Ich war ein Tourist mit ganz speziellen Interessen, und mein Führer kam normalerweise in diese Gegend, um Verhaftungen und Hausdurchsuchungen durchzuführen oder unterirdische Verstecke aufzuspüren. Ich konnte mich nicht einfach ein Stück entfernen und den Baum
von weitem betrachten wie ein verträumter Dichter auf der Suche nach einer Inspiration. Ehrlich gesagt, bin ich gar nicht auf diese Idee gekommen. Nach all den Jahren, in denen ich ganze Tage mit meinen Leibwächtern verbringe, merke ich gar nicht mehr, dass ich mein Verhalten einem Gruppenkodex anpasse. Aber das ist normal. Wir folgen alle irgendwelchen Regeln, nicht nur die Carabinieri oder die ’Ndrangheta.
Als ich das Foto betrachte, auf dem ich mich selbst in dem Baum sehe, fällt mir Santo Scipione ein,
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