Zerrissenes Herz (German Edition)
wurde und ihr die Fröhlichkeit nahm. Die anderen schienen es nicht zu bemerken; sie lachten und sprachen weiter und ließen die Popcornschüssel herumgehen. Daisy dachte, dass dieses Syndrom – wenn sie zuließ, dass die Trauer sie ein Leben lang immer wieder überwältigte – ihr Ende sein könnte. Vielleicht nicht im wörtlichen, aber im übertragenen, emotionalen Sinne.
Ihr Trauerberater hatte ihr die lähmenden Nebenwirkungen aufgezählt, die mit einem Verharren in der Trauer einhergingen: Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Unkonzentriertheit, das Gefühl des Abgetrenntseins … Doch erst jetzt, in diesem Moment, verstandDaisy, was er damit gemeint hatte.
Noch etwas anderes fiel ihr auf, während sie mit ihren lachenden Freunden dasaß. Es war an der Zeit, sich fürs Glücklichsein zu entscheiden. Sie hatte seit Ewigkeiten nichts anderes als Trauer gefühlt. Daisy musste weitergehen, oder sie würde sich verlieren. Sie wollte glücklich sein. Sie wollte aufhören, sich durch die Tage zu schleppen und das Gesicht nachts in eins von Julians T-Shirts zu drücken und zu weinen. Er erwartete mehr von ihr. Er würde wollen, dass sie ihr Leben lebte und sich nicht einfach irgendwie durchkämpfte. Für Julian, dachte sie. Und für mich.
Der nächste Tag begann mit einem farbenprächtigen Sonnenaufgang. Es war einer der Tage, an denen Daisy froh war, weil sie lebte. Sie nahm ihre Kameratasche und machte ein Foto. Sie brauchte nur eins, das wusste sie. Manche Bilder waren einfach perfekt.
Anschließend eilte sie an ihren Computer und schaute sich das Bild auf dem großen Monitor an. Es war ein Close-up von einer trompetenförmigen weißen Blüte, die von Tau benetzt war. Jedes Tröpfchen auf der Blume bildete einen konvexen Spiegel, der den Sonnenaufgang reflektierte und so ein komplexes Mosaik aus natürlichen Farben erschuf. Das Foto hatte etwas Besonderes, eine einzigartige Magie, die den Betrachter berührte.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Daisy sich wieder wie eine Künstlerin. Sie sicherte die Datei, machte einen Ausdruck und sah sich die Aufnahme lange an. Dann schrieb sie auf die Rückseite das Datum. Sie atmete tief durch. Ein beschwingtes Gefühl ergriff sie, als sie den Abzug in den Postkorb legte, der schon viel zu lange leer war – in den Postkorb für die Bewerbung beim MoMA-Wettbewerb für aufstrebende Künstler.
Die Chancen waren nur gering, das wusste sie, aber sie würde dieses Mal etwas einreichen – auch wenn das bedeutete, dass sie mit weniger Schlaf auskommen musste. Sollte das Unmögliche passieren und sie ausgewählt werden, wäre das ein Wunder. Doch selbst wenn sie nicht in die engere Auswahl kam, würde sie aufdiese Weise ein Portfolio erstellen, auf das sie stolz sein könnte.
Als Charlie ein wenig später aufwachte, machten sie Frühstück. Sonnet wollte mit ihm Pfannkuchen in Dinosaurierform backen. Während Sonnet sich um den kleinen Jungen kümmerte, suchte Daisy ihre Kameratasche, ein kleines Notizbuch und einen Stift. Dann machte sie den ersten Schritt auf einer Reise, die sie sich seit dem vergangenen Abend ausgemalt hatte.
Sie fuhr zum Camp Kioga und ging zu der öffentlichen Feuerstelle am See. Niemand war da. Ein paar übrig gebliebene, angekohlte Holzstücke lagen in der flachen Grube. Dort, wo das Licht auf ihn fiel, wirkte der See wie eine Glasscherbe. Daisy fand ihre Perspektive, und anstatt das Gegenlicht zu vermeiden, bezog sie es mit ein. Sie wusste, dass es dem Foto eine gewisse geheimnisvolle Atmosphäre verleihen würde.
„Ich habe genau hier gesessen, als ich dich das erste Mal getroffen habe.“ Sie sprach leise, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hätte hören können. „Du warst so anders als alle, die ich bis dahin getroffen hatte. Ich habe versucht, dich dazu zu bringen, Pot mit mir zu rauchen, als würde dich das beeindrucken oder so. Du hast Nein gesagt, aber auf sehr charmante Weise. Meine anderen Freunde wollten immer nur Party machen und sich betrinken. Ich hab nicht herausgefunden, worauf du aus warst. Aber ich war auf jeden Fall fasziniert von dir. Julian, du warst alles für mich. Dich zu verlieren ist, als hätte man ein Loch mitten in meine Brust gerissen. Irgendwie lebe ich noch, atme und bewege mich durch den Alltag. Doch das einzige Gefühl, das ich im letzten Jahr empfunden habe, ist der Schmerz über deinen Verlust. Nur – mit diesem Schmerz kann niemand für immer leben.“
Ernst fuhr sie fort: „Deshalb geht es heute für
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