Zerstöre mich
immer gleich. Niemand da, um zu trösten. Niemand an deiner Seite.
Zünde eine Kerze für mich an, habe ich immer geflüstert, obwohl mich keiner hörte.
Jemand
Irgendjemand
Falls da jemand ist dort draußen
Bitte sagt mir ob ihr die Flamme spürt.
Wir patrouillieren seit fünf Tagen. Noch immer nichts.
Jede Nacht führe ich die Truppe an, marschiere in die Stille dieser kalten Winterlandschaft. Wir suchen nach verborgenen Gängen, getarnten Zugängen – irgendeinem Hinweis auf eine unterirdische Welt.
Und kehren jede Nacht ohne Ergebnis zum Stützpunkt zurück.
Dieses Scheitern der letzten Tage lähmt mich, erstickt mich, hat mich in eine Dumpfheit versetzt, aus der ich mich nicht befreien kann. Jeden Morgen beim Aufwachen suche ich verzweifelt nach einer Lösung für meine selbst verschuldeten Probleme, aber mir fällt nichts ein.
Wenn sie da draußen ist, wird er sie finden. Und töten.
Nur um mir eine Lektion zu erteilen.
Meine einzige Hoffnung besteht darin, dass ich sie vor ihm finde. Oder ihr zur Flucht verhelfen kann. Oder so tun kann, als sei sie bereits tot. Oder vielleicht kann ich ihn davon überzeugen, dass sie anders, besser ist als die anderen; dass man sie deshalb am Leben lassen muss.
Ich komme mir wie ein jämmerlicher Trottel vor.
Bin wieder das kleine Kind, das sich in dunklen Ecken versteckt und betet, dass er mich nicht findet. Dass er heute guter Stimmung ist. Dass meine Mutter diesmal vielleicht nicht schreit.
Wie schnell ich mich in seiner Gegenwart in eine andere Daseinsform zurückverwandle.
Ich fühle mich stumpf.
Führe meine Aufgaben mechanisch aus; sie sind anspruchslos. Bewegen ist nicht schwer. Essen bin ich gewohnt.
Aber ich kann nicht aufhören, ihr Notizheft zu lesen.
Mir tut das Herz weh dabei, aber ich kann nicht damit aufhören. Ich fühle mich, als hämmere ich gegen eine unsichtbare Wand, als sei mein Gesicht mit Plastik bandagiert, und ich kann nicht atmen, nicht sehen, nichts hören außer meinem Herzschlag, der in meinen Ohren pocht.
Ich habe mir nicht viel gewünscht in diesem Leben.
Ich habe niemanden um etwas gebeten.
Und jetzt bitte ich nur um eine zweite Chance. Eine Gelegenheit, Juliette noch einmal zu sehen. Aber wenn mir nicht einfällt, wie ich meinen Vater aufhalten kann, sind diese Worte in ihrem Tagebuch alles, was mir noch von ihr bleibt.
Diese Sätze. Diese Buchstaben.
Dieses Notizheft ist zur Obsession für mich geworden. Ich trage es überall mit mir herum, verbringe jede freie Minute damit, die Worte zu entziffern, die sie an den Rand gekritzelt hat, Geschichten zu den Zahlen.
Mir ist aufgefallen, dass die letzte Seite fehlt. Sie wurde herausgerissen.
Ich frage mich, weshalb. Habe das Heft zigmal durchgesehen und nach anderen Stellen gesucht, an denen Seiten fehlen, aber es gibt keine. Ich fühle mich betrogen, weil mir ein Teil fehlt, weil mir etwas entgangen ist. Es ist nicht mein Tagebuch, und eigentlich geht es mich gar nichts an. Aber ich habe die Texte so oft gelesen, dass sie mir inzwischen wie meine eigenen vorkommen. Ich kann sie auswendig.
Es ist seltsam, sich in Juliettes Kopf aufzuhalten, ohne sie sehen zu können. Ich spüre sie dann direkt vor mir. Ich habe das Gefühl, sie jetzt so genau zu kennen, dass ich mich in ihren Gedanken geborgen fühle, willkommen. Verstanden. Und das Gefühl ist so intensiv, dass ich manchmal vergesse, wer mich in den Arm geschossen hat.
Ich vergesse auch fast, dass sie mich immer noch hasst, so sehr ich ihr auch verfallen bin.
Und das bin ich.
Mit Haut und Haaren.
In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nie empfunden. Ich kenne Scham und Feigheit, Schwäche und Kraft. Ich kenne Grauen und Gleichgültigkeit, Selbsthass und Lebensekel. Ich habe Dinge gesehen, die ich nicht mehr aus meinem Kopf löschen kann.
Und dennoch war nichts so schlimm wie dieses grauenhafte, entsetzliche, lähmende Gefühl. Ich fühle mich verwundet. Verzweifelt und verworren. Und es wird schlimmer. Tag für Tag fühle ich mich krank. Schmerzhaft leer.
Die Liebe ist ein herzloser, tückischer Bastard.
Ich treibe mich selbst in den Wahnsinn.
Ich sinke auf mein Bett, in voller Montur. Mit Mantel, Stiefeln, Handschuhen. Bin zu müde, um mich ausziehen. Diese nächtlichen Patrouillen lassen mir kaum Zeit zum Schlafen. Ich bin in einem Dauerzustand von Erschöpfung.
Mein Kopf landet auf dem Kissen, und ich blinzle einmal. Zweimal.
Sacke weg.
22
»Nein«, höre ich mich selbst sagen. »Du kannst nicht
Weitere Kostenlose Bücher