Zerstörte Seelen
Mit einem Fußtritt beförderte sie den Mann in die Bauchlage. Als er versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, stellte sie ihm den Absatz auf die Schulter und drückte ihn zu Boden. Dann zerschnitt sie mit dem Messer das Netz.
Während sie mit der scharfen Klinge das Gewebe zerteilte, entdeckte sie die Ursache seines Schmerzes: Er hatte sich beim Sturz aus dem Transporter das Handgelenk gebrochen. Darby musste an Charlie denken. Als sie ihm das Handgelenk verdreht hatte, waren seine Knochen geknickt wie dürre Zweige. So etwas konnte passieren, genauso wie die Wucht eines Fausthiebes ein oder zwei Zähne lockern konnte. Doch sie hatte ihm gleich
mehrere
ausgeschlagen. Charlie war erschreckend mager und voller Narben gewesen. Möglich, dass er durch die lange Zeit in Gefangenschaft spröde, unterentwickelte Knochen gehabt hatte.
Nach seiner Entführung hatte Charlie Rizzo offenbar täglich Schläge erdulden müssen, Folter und weiß Gott was noch.
Vorausgesetzt, dass der Geiselnehmer tatsächlich Charlie Rizzo war. Aber im Augenblick wusste sie nicht, was sie sonst denken sollte.
Darby löste mühsam das Gewebe vom Körper des Gefangenen. Dann fesselte sie den Mann mit einem Kabelbinder und half ihm auf.
Mit dem Messer durchtrennte sie die Riemen seiner Kampfweste. Er trug dasselbe Modell wie das New-Hampshire- SWAT -Team.
Die Kerle, die ins Haus eingedrungen sind, waren angezogen wie
SWAT
-Leute; sie müssen die Westen und Masken aus dem Transporter genommen haben, als die Männer vom Sondereinsatzkommando am Giftgas gestorben waren
.
Das konnte nur heißen, dass die ganze Aktion schon vor ihrer Ankunft geplant gewesen war. Die Kerle hatten sich in der Nähe aufgehalten und alles beobachtet.
Aber warum hatten sie Mark Rizzo mitgenommen? Warum hatten sie ihn nicht einfach getötet wie Judith Rizzo und die Zwillinge, deren Überreste nach der Explosion in nicht mehr identifizierbare Stücke zerfetzt und quer durch den Wald verteilt waren? Wozu brauchten diese Leute den Vater?
Darby riss die Gasmaske vom Gesicht des Mannes. Die frische Luft würde das Brennen in seiner Lunge, im Rachen und der Nase lindern. Aber nicht das Brennen in seinen Augen. Die musste sie mit Wasser ausspülen.
«Wohin hat man Mark Rizzo gebracht?»
Der Mann antwortete nicht. Er war zu sehr mit Husten beschäftigt. Doch sie spürte, wie er unter ihrem Griff erstarrte. Seine gesamte Kleidung war schwarz. Schwarze Hose, schwarze Stiefel – genau wie das seltsame Material seines schweren langärmeligen Hemdes. Charlie hatte ein ganz ähnliches getragen. Darby fragte sich, ob der Mann ebenso vernarbt war wie Charlie.
Sein Kopf war es eindeutig. Er war kahl geschoren, und am Hinterkopf und im Nacken entdeckte Darby Narben in allen Formen und Größen. Außerdem fand sie eine Tätowierung: Unter die Haut über den Halswirbeln waren Worte und Buchstaben gestochen worden. Doch die hellblaue Tinte war so verblasst, dass Darby die Schrift nicht entziffern konnte. Sie brauchte mehr Licht.
Darby packte den Mann am Kragen und drückte ihm die Messerspitze ins Genick.
«Wir machen einen Spaziergang. Irgendwelche Tricks, und ich schwöre, ich durchtrenne Ihnen das Rückgrat. Dann können Sie den Rest Ihres Lebens in Windeln pissen.»
Sie versetzte ihm einen Stoß. Der Mann aus dem Haus hatte einen weißen Plastikeimer auf die Stufen vor der Eingangstür gestellt. Im Haus brannten sämtliche Lichter. Darby sah einen Schatten hinter die Gardine huschen. Sie drehte den Gefangenen so, dass sie seine Tätowierung im Licht, das nach draußen fiel, besser sehen konnte.
Zwei Zeilen winziger Buchstaben und Ziffern.
ET IN ARCADIA EGO
III – XI – XXIV
Römische Zahlen, lateinische Wörter.
Darby nahm den Eimer. Der alte Mann hatte eine Scheuerbürste und Spülmittel hineingelegt. Sie hängte sich den Griff des Eimers über den Arm, stieß den Gefangenen bis zur Seite des Hauses vor sich her und fand dort den ordentlich auf eine Halterung aufgewickelten Gartenschlauch. Das Fenster über ihnen warf einen rechteckigen Lichtschein auf den von Herbstlaub bedeckten Rasen.
Darby stieß den Mann zu Boden und drückte sein Gesicht in das Gras in der Nähe des Schlauches. Er schrie und blies Blätter von seinem Mund weg. Darby grub ein Knie in seine Lendenwirbel, drückte ihn nieder und öffnete gleichzeitig den Wasserhahn. Über das Geräusch des laufenden Wassers hinweg hörte sie die Schritte, die sich auf das erleuchtete Fenster über ihr
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