Zerstörte Seelen
hohen Tier die Stiefel zu lecken, war Leland unschlagbar. Aber Leute, die seiner Auffassung nach unter ihm standen, ignorierte er geflissentlich. Leute wie Chet.
Chet überlegte angestrengt, ob er das Risiko eingehen sollte, in König Lelands Palast in Brookline anzurufen. Er schätzte den lockeren Job an der Sicherheitsschleuse und wollte keinen Ärger. Und ein Sesselpupser wie König Leland konnte ziemlich empfindlich reagieren, wenn man ihn an seinem wohlverdienten Feierabend störte.
«Ich kann ihn auch selbst anrufen», sagte Darby.
Chet machte eine wegwerfende Handbewegung. «Nein, schon okay. Ich glaube dir. Geh einfach durch. Und herzlich willkommen zurück, Darby.»
Darby stieg aus dem Fahrstuhl und nahm das Band von ihrem Hals. Mit angehaltenem Atem hielt sie den Ausweis vor das Lesegerät an der doppelten Stahltür des Labors.
Das Lämpchen sprang auf Grün, die Schließbolzen klickten, und die angehaltene Luft explodierte fast zwischen Darbys Lippen hervor. Der Druck in ihrer Brust löste sich.
Der leere Schreibtisch der Laborsekretärin war nur schummrig beleuchtet. Darby ging daran vorbei, bog ab und schaute den Flur entlang. Die Türen der Zweipersonenbüros standen offen, alle Räume waren dunkel. Der Eingang zur Serologie, wo sie den größten Teil ihrer ersten Berufsjahre verbracht hatte, war ebenfalls ohne Licht. Keiner da. Das überraschte Darby nicht. Vor dem Hintergrund der allgemein schlechten wirtschaftlichen Lage war der Etat der Abteilung gekürzt worden. Überstunden gab es nun nicht mehr. Nach 16.30 Uhr wurde nur noch im Notfall gearbeitet, und selbst das musste erst von Leland genehmigt werden. Er lehnte nur allzu gerne ab. Nichts verschaffte dem Mann mehr Befriedigung, als das Budget nicht voll auszuschöpfen.
Darby ging den Flur entlang zu ihrem Eckbüro. Ihr Namensschild war bereits abgeschraubt worden, aber die Schlösser hatte man nicht ausgetauscht. Ihr Schlüssel drehte sich problemlos im Schloss.
Sie schaltete das Licht an und stellte fest, dass die wenigen Dinge, die sie an die Wand gehängt hatte, abgenommen und in Schachteln gepackt worden waren. Die Wand hinter ihrem Schreibtisch – ihrem
ehemaligen
Schreibtisch, verbesserte sie sich – war mit Lelands gerahmten Urkunden und mit Fotos tapeziert, auf denen er die Hände des Bürgermeisters, des Gouverneurs und des neuen Senators von Massachusetts schüttelte. Auch Bilder von Leland und Präsident Clinton hingen dort. Leland verfügte über ein weitverzweigtes Netz politischer Verbindungen – es war ihm sogar gelungen, gemeinsam mit Präsident Obama zu posieren. Die teuren Rahmen waren so platziert, dass jeder, der das Büro betrat, sofort wusste, dass er es mit einer Persönlichkeit von
großer
Wichtigkeit zu tun hatte.
Er musste natürlich mein Büro übernehmen. Es ist ein bisschen größer als seines, hat mehr Fenster und eine bedeutend bessere Aussicht. Pisser wie ihn macht es glücklich, anderen auf die Art eins auswischen zu können.
Darby setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Alt und langsam, wie das Ding war, brauchte es seine Zeit, um hochzufahren.
Sie gab ihren Namen und das Passwort ein und drückte die Enter-Taste.
KEIN ZUGANG .
Shit
. Man hatte sie ausgesperrt. Sie kam weder an Charlie Rizzos Akte noch an die Fingerabdruckdateien des Labors. Beide Bereiche wurden durch dasselbe Passwort geschützt.
Darby lehnte sich zurück und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
Das erste Problem – an Informationen über den Charlie-Rizzo-Fall zu kommen – war nicht schwer zu lösen. Der leitende Ermittlungsbeamte war ein Grieche namens Stan Karaks gewesen, der sich inzwischen zur Ruhe gesetzt hatte. Die Frage war nur, ob er überhaupt noch in der Stadt wohnte.
Bei der Retired Boston Police Officers Association, einer Vereinigung pensionierter Polizeikräfte, würde man es wissen. Dort sammelte man Kontaktinformationen wie Adressen und Telefonnummern. Deren Büro war um diese Uhrzeit natürlich geschlossen, aber Darby konnte gleich morgen früh dort anrufen. Besser noch, sie konnte nach West Roxbury fahren und persönlich mit jemandem sprechen.
Blieb noch das zweite und dringlichere Problem, wie sie mit den Seiten in ihrer Jackentasche weiter verfahren sollte. Sie konnte einen der Labortechniker bitten, die Fingerabdrücke heimlich für sie abzugleichen. Randy Scott würde es tun, ohne irgendwelche Fragen zu stellen … Aber wenn Leland das spitzbekam, würde der Pisser
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